Ausgänge: TEIL III

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© Char­lot­te Krusche

Zwi­schen tie­fen­zeit­li­chem Ambi­en­te und Ter­ra­forming könn­te es künst­li­che Land­schaf­ten geben, die Aus­gän­ge aus den ent­zün­de­ten Apo­rien der Gegen­wart ermög­li­chen. Joshua Groß denkt dar­über nach, aus­ge­hend von A Japa­ne­se Hor­ror Film von Ches­ter Wat­son, Rei­se zum Mount Tamal­pais von Etel Adnan und Alti­pla­no von Male­na Szlam. 

von Joshua Groß
 

Altiplano von Malena Szlam

Sobald ich Alti­pla­no ent­deck­te, war ich alar­miert und erschüt­tert. Die chi­le­ni­sche Expe­ri­men­tal­fil­me­rin Male­na Szlam hat die­ses Kunst­werk zwi­schen 2016 und 2018 auf dem süd­li­chen Alti­pla­no-Pla­teau in Chi­le und Argen­ti­ni­en gedreht und pro­du­ziert, 3600 Meter über dem Mee­res­spie­gel. Als ich den Film zum ers­ten Mal sah, erging es mir unge­fähr wie Etel Adnan ange­sichts des Mount Tamal­pais: „Ich bin ver­wun­dert, nein, mehr als das: Ich bin erfüllt. Aus mei­nem gewohn­ten Selbst her­aus­ge­löst, wer­de ich in die Welt ver­setzt, so wie sie sein könn­te, wenn nie­mand sie beob­ach­tet.“ Es kommt mir wie ein Pri­vi­leg und ein Para­dox vor, etwas wahr­neh­men zu dür­fen, das nicht wahr­nehm­bar zu sein scheint – nicht in die­se Wei­se wahrnehmbar.
 
Alti­pla­no zeigt Land­schaf­ten als Phan­tas­ma­go­rien, als tie­fen­sphä­ri­sche Eksta­se. Land­schaf­ten über­la­gern sich, Land­schaf­ten wer­den inver­tiert. Salz­flä­chen fun­keln, aus Schwe­fel­quel­len stei­gen Dampf und viel­leicht über­zeit­li­cher Schaum auf; mir ist, als wür­de sich mir ein ande­rer Rhyth­mus bemäch­ti­gen – teil­wei­se auch, weil die­ses vul­ka­ni­sche Gebiet in mir vibriert, obwohl ich es noch nie besucht habe. Die­ser ande­re Rhyth­mus hat sich längst in mein Hirn gehackt. Die Bil­der, ver­schwen­de­risch und hoch­kon­zen­triert, wie sie sind, bestürz­ten mich; sie tran­szen­die­ren, was ich auf­neh­men kann. In sel­te­nen Momen­ten, von denen
Alti­pla­no einer ist, mei­ne ich mein Gehirn phy­sisch spü­ren zu kön­nen, wie es sich bewegt und wei­tet und her­um­wa­bert, oder wie es gegen sei­ne eige­ne Ana­to­mie vor­geht. Erst als ich davon ablas­se, die stro­bo­sko­pi­schen Bil­der eins ums ande­re fest­hal­ten zu wol­len, gelan­ge ich all­mäh­lich in einen Modus der Medi­ta­ti­on. Die Erhe­bung in mir dau­ert an. Außen­rum Ver­wit­te­rungs­pro­zes­se, zer­furch­tes Gestein, Kor­ro­si­on, Abla­ge­run­gen – Kon­flik­te, bei­na­he mani­sche Emp­fin­dun­gen his­to­ri­scher Vor­gän­ge. Oder magi­sche Empfindungen?
 
Viel­leicht wird man beim Sehen von Alti­pla­no auch gar nicht in die Welt ver­setzt, son­dern man wird ein Teil von ihr: „I move with the sky/ I’m one with the land, I’m one with the tides/ they do what they can, I do what I like …“, wie es bei Ches­ter Wat­son heißt. Ver­ler­nen als selbst­ge­wähl­te, psy­che­de­li­sche Erneue­rung. Was viel­leicht wahr­nehm­bar ist, aber zumin­dest nicht voll­stän­dig hör­bar, sind die unsicht­ba­ren Sounds, die Male­na Szlam für ihren Film nutzt: Wal­ge­sän­ge, Vul­kang­rol­len; bei­des fin­det teil­wei­se auf der­art nied­ri­gen Fre­quen­zen statt, dass sie für Men­schen nur ahn­bar sind. Maxi­mal ahn­bar, was meint: im bes­ten Fall ahn­bar. Nicht­mensch­li­che Klän­ge, deren Aus­wir­kun­gen mir manch­mal vor­kom­men, als wür­de ich über hauch­dün­ne Eis­schich­ten lau­fen, viel­leicht über gefro­re­ne Pfüt­zen, und immer­zu ein Zer­split­tern, Klir­ren ver­ur­sa­chen; unaus­weich­lich, auch mit Vor­sicht ist die­sem Auf­bre­chen nicht bei­zu­kom­men, oder gera­de nicht mit Vor­sicht. Viel­leicht ist es mein iden­ti­tä­res Gehäu­se selbst, das brü­chig gewor­den ist – wie die aus­ge­trock­ne­ten, ris­si­gen Böden im Alti­pla­no, wo das Licht der Tage und das Licht der Näch­te über­ein­an­der geschich­tet wur­den, wo der Däm­me­rung eine Schwer­mut inne­wohnt, die leuch­tet. Anspan­nung, die unbe­greif­bar ist, die sich ent­zieht, die in mich hin­e­infließt und dann aufweicht.
 
Alti­pla­no, men­ta­le Druck­mas­sa­ge, der ich im Zeit­raf­fer unter­wor­fen bin.
 
Das bri­san­te Blau des Him­mels, das schwe­fe­li­ge Rot des Gesteins, die geis­ter­haf­ten Sal­ze, das gepeitsch­te Grün der Grä­ser, die lila­ne Bläs­se der Atmo­sphä­re. Und Male­na Szlam, die in einem Inter­view sagt: „Land­scapes hold so much history—millions of years—and we have fic­tion­a­li­zed the idea of what that means.“ 

Dass ich manch­mal fähig zur Fik­ti­on bin, erleich­tert mich. Alti­pla­no ist auch Fik­ti­on; hyper­wa­che Kom­pri­mie­rung der Tat­sa­che, dass man selbst im Ambi­en­te tie­fen­zeit­li­cher Gescheh­nis­se wan­delt – oder vor­sich­ti­ger Hin­weis dar­auf, dass Kom­mu­ni­ka­ti­on auch über Far­ben und Bil­der mög­lich ist. Ich selbst bin Teil des tie­fen­zeit­li­chen Ambi­en­tes. Was soll das hei­ßen, fähig zur Fiktion?

„We are inven­ting the­se kinds of fic­tion­a­li­zed tem­po­ra­li­ties“, sagt Male­na Szlam. 

Wir ent­zie­hen uns dem, wor­in wir fest­ste­cken; wir sind fähig zur Fan­ta­sie. Wir fügen uns der Welt, indem wir fik­tio­na­li­sier­te Zeit pro­du­zie­ren, künst­li­che Land­schaf­ten; wir fügen etwas hin­zu – Aus­we­ge unter ande­rem. Die Aus­we­ge negie­ren nicht die Wirk­lich­keit, sie erwei­tern sie. Wir wol­len womög­lich irgend­wann ver­ge­hen ohne davor geron­nen zu sein. Und wenn ich „wir“ sage, weiß ich, offen gestan­den nicht, wen ich damit mei­ne. Es ist wie Astral­pro­jek­ti­on: sich in Ver­wir­rung wohl­füh­len, bis ein­setzt, was Ches­ter Wat­son „I do what I like“ genannt hat. Das funk­tio­niert in der fik­tio­na­li­sier­ten Zeit, und es ist eine Erin­ne­rung oder eigent­lich eine Mah­nung, weil das auch im nicht­fik­tio­na­li­sier­ten Rea­li­täts­ge­fü­ge mög­lich ist: immer­zu kann das Bedürf­nis spür­bar sein, dass man nicht von klei­nen blin­den Fer­tig­kei­ten gelei­tet wer­den will, son­dern von Fähig­kei­ten, die man ein­übt, par­al­lel zum Ver­ler­nen des Schwachsinns.

Wovon zit­tert mein Hirn? Viel­leicht spü­re ich, dass sich das Leben doch nicht selbst schreibt, son­dern dass wir mit einer eksta­ti­schen Form der Wahr­neh­mung dar­auf ein­wir­ken können.

 

Lite­ra­tur:

Etel Adnan: Der Herr der Fins­ter­nis, Suhr­kamp, 2019

Etel Adnan: Rei­se zum Mount Tamal­pais, Edi­ti­on Nau­ti­lus, 2008 

Mark Fisher: Das Selt­sa­me und Gespens­ti­sche, edi­ti­on TIAMAT, 2017

Mark Fisher, k‑punk, edi­ti­on TIAMAT, 2020

Georg Chris­toph Lich­ten­berg: Apho­ris­men, insel taschen­buch, 1976

Mar­cus Stein­weg: Sub­jekt und Wahr­heit, Matthes & Seitz Ber­lin, 2018

Robert Wal­ser: Klei­ne Dich­tun­gen, Suhr­kamp, 1985

Ches­ter Wat­son im Gespräch mit Dylan Green: DJBOOTH, 4. Okto­ber 2018

https://djbooth.net/features/2018–10-04-chester-watson-interview

Male­na Szlam im Gespräch mit Dan Sul­li­van: Film Com­ment, 17. Juni 2019

https://www.filmcomment.com/blog/interview-malena

Joshua Groß, 1989 gebo­ren in Grüns­berg, stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft, Öko­no­mie und Ethik der Text­kul­tu­ren in Erlan­gen. 2019 erhielt er den Anna-Seg­hers-Preis, 2021 wird er mit dem Lite­ra­tur­preis der A und A Kul­tur­stif­tung aus­ge­zeich­net. Zuletzt erschie­nen der Roman Fle­xen in Miami sowie der Essay- und Erzähl­band Ent­kom­men bei Matthes & Seitz Berlin.