Eurydike

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„Wenn du lan­ge in den Abgrund blickst, blickt er auch in dich hin­ein“, schreibt Nietz­sche und ich den­ke an dich. Ich bli­cke in den Abgrund mei­nen Abgrund und mit der Schwe­re der Welt las­se ich mich von mei­nem Blick hin­ein­zie­hen in das tie­fe Nichts mei­ner eige­nen  ver­schwom­me­nen Spie­ge­lung, wäh­rend sich die Türen der Stra­ßen­bahn lang­sam schlie­ßen, es ist kalt, du bist es auch, ich sehe dein Spie­gel­bild an der Fens­ter­schei­be neben mei­nem, wie ein altes Polaroid und spü­re, wie du auf dei­ner Sei­te mei­nes betrach­test; von Fens­ter zu Fens­ter zwi­schen uns tun sich Wel­ten auf, wie Türen, die nicht uns gehö­ren, denn wir sit­zen hier im Jetzt der abso­lu­ten Gegen­wart und den­ken an das wäre, hät­te, könn­te sein in einer ande­ren Zeit; ich exis­tie­re unend­lich doch höre auf zu sein, wenn du mich mit kal­ten Augen ansiehst, und alle Türen fal­len ins Schloss da ist ein Raum zwi­schen uns, ein lan­ger dunk­ler Flur, des­sen Wän­de dich umrah­men, wie ein Gemäl­de, ich war­te, dar­auf, dass du mir etwas von der ande­ren Sei­te zurufst, wäh­rend ich selbst nur stumm daste­he und die Lee­re des Rau­mes tief in mei­ne Lun­gen zie­he, jeder Atem­zug ein Vaku­um, das uns bei­de in sich ein­schließt; mei­ne Schrit­te suchen Halt und fin­den ihn nicht, zwischen den schwan­ken­den Wän­den und dem Boden der Tat­sa­chen, und die Wän­de sind Fel­sen und mei­ne Hän­de sind kalt, wenn sie statt nach dir wie­der nur ins Lee­re grei­fen, mehr als ein schö­ner Gedan­ke bist du eigent­lich nie gewe­sen, als der Gedan­ke was wäre, wäre es nicht so wie jetzt, der Gedan­ke, eine Welt ver­passt zu haben, die die Bes­te aller mög­li­chen hät­te sein kön­nen viel­leicht, den­ke ich mir, wäh­rend sich die Gedan­ken mul­ti­pli­zie­ren, mein Blick umkreist dich, aber trifft dich nicht, du bist ein Schat­ten, der immer bleibt, selbst wenn alles vor­bei ist, der mich in sich hin­ein­zieht und dem ich mich kaum ent­rei­ßen kann, und eigent­lich will ich es nicht, weil der Schmerz von damals bes­ser ist, als die Erkennt­nis, dass es heu­te vor­bei ist und wenn dein Blick mich trifft mit vol­ler Wucht wird mir bewusst, wie wider­sin­nig Lie­be ist. Die Stra­ßen­bahn hält an und ich ver­su­che beim Aus­stei­gen an der Spie­ge­lung in der Fens­ter­schei­be zu erken­nen, ob du dich nach mir umsiehst.

Ste­pha­nie Siegl, gebo­ren 1998 in Immenstadt im All­gäu. Bache­lor­stu­di­um in Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in Augs­burg. Aktu­ell im Mas­ter Ethik der Text­kul­tu­ren. Schreibt manch­mal. Über Dinge.