Schauinsblau Wrapped Teil 4

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von Ellen Köh­ler und Gabri­el Gavran

 

Ellen Köh­ler (24) stu­diert Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten und will sich seit drei Jah­ren ein Kaf­ka Zitat täto­wie­ren las­sen, traut sich aber nicht.

Matrix von Lauren Groff

Der Titel Matrix könn­te fälsch­li­cher­wei­se dazu ver­lei­te­ten, das Buch für einen von den unzäh­li­gen auf dem Buch­markt exis­tie­ren­den Sci­ence-Fic­tion Roma­nen zu hal­ten. Doch Matrix hat nichts mit einem Par­al­lel­uni­ver­sum zu tun, son­dern lei­tet sich aus dem latei­ni­schen Wort für Gebär­mut­ter ab. Und genau dar­um geht es in dem his­to­ri­schen Roman, der auf­grund des durch­ge­hen­den Prä­sens gar nicht so his­to­risch daher­kommt: Die ursprüng­li­che, schöp­fe­ri­sche Kraft des Weiblichen.

Buch­co­ver matrix ©Cla­as­sen

In dem Roman erzählt Lau­ren Groff aus einer schon fast gött­lich wir­ken­den, all­wis­sen­den Erzähl­per­spek­ti­ve die Geschich­te der zu Anfang des Romans sieb­zehn­jäh­ri­gen Marie, die auf­grund ihres zu mäch­ti­gen Erschei­nungs­bil­des als hei­rats­un­fä­hig ein­ge­stuft und daher als Äbtis­sin in ein Klos­ter geschickt wird. Die Autorin schafft an kei­ner Stel­le ein roman­ti­sie­ren­des Bild eines mit­tel­al­ter­li­chen Klos­ters, die der­be Spra­che lässt die Leser*innen bei­na­he selbst die Gerü­che emp­fin­den, die damals wohl geherrscht haben müs­sen. Die jun­ge Marie ist anfangs auf­grund der Roh­heit ein­ge­schüch­tert, doch nach und nach geht sie in ihrer Füh­rungs­rol­le immer mehr auf, revo­lu­tio­niert den Acker­bau, die Was­ser­wirt­schaft sowie das Wege­netz und schafft einen siche­ren Ort für sich und ihre Mit­schwes­tern, die nun nicht mehr von Unter­ernäh­rung, Krank­heit und gewalt­tä­ti­gen Angrif­fen heim­ge­sucht wer­den. Marie ist eine beson­de­re Frau, sie spürt die in ihr woh­nen­de gött­li­che Kraft und wehrt sich gegen die Rol­le, die die Kir­che ihr als Frau zuschreibt: „War­um soll­te sie, die spür­te, wie ihre Grö­ße in ihrem Blut pul­sier­te, weni­ger Wert sein, weil die ers­te Frau aus einer Rip­pe geformt wor­den war, eine Frucht geges­sen und dar­auf­hin den müßi­gen Gar­ten Eden ver­las­sen hat­te? (…) Ihr Glau­ben wür­de immer wei­ter in sei­ne eige­ne Geo­me­trie hin­ein­wach­sen, kan­tig und majestätisch.“

Kan­tig und majes­tä­tisch, genau das ist es, was Marie ver­kör­pert, sie ver­eint har­te Arbeit, Got­tes­glau­ben und Dis­zi­plin, zugleich aber auch Weich­heit, weib­li­che Lust und Krea­ti­vi­tät, nimmt die Füh­rungs­rol­le an, ist aber zu kei­ner Zeit her­risch oder ungerecht.

Matrix von Lau­ren Groff ist damit eine kla­re Lese­emp­feh­lung für alle, die ger­ne his­to­ri­sche Roma­ne lesen, die sich mit exis­ten­zi­el­le­ren The­men beschäf­ti­gen und kein Pathos der guten alten Zeit schaf­fen wol­len. Die Aus­ga­be in Ori­gi­nal­spra­che wür­de ich aller­dings nur Leser*innen emp­feh­len, die über einen breit­ge­fä­cher­ten Wort­schatz ver­fü­gen, da es vie­le Voka­beln aus dem Bereich Klos­ter und Kir­che ent­hält, die der durch­schnitt­li­chen Leser*innenschaft nicht geläu­fig sein könn­ten. Die deut­sche Über­set­zung hält sich an den kla­ren und schlich­ten, aber auch sehr poe­ti­schen Stil von Lau­ren Groff, wodurch der Lese­ge­nuss auch im Deut­schen nicht ver­lo­ren geht.


Gabri­el Gav­ran (28) Ger­ma­nis­tik­stu­dent, möch­te 2023 mit Haru­ki Mura­ka­mi zusam­men eine Kat­ze streicheln.

Bullet Train (2022)

In der jet­zi­gen Welt des Kinos tut man sich schwer, etwas Erfri­schen­des und Ori­gi­nel­les für sich zu ent­de­cken. Denn steht man vor den Kino­kas­sen, hat man gefühlt nur die Aus­wahl zwi­schen Reboots alter Fil­me und Ver­fil­mun­gen des übli­chen Mar­vel/DC-Quat­sches. Daher war Bul­let Train die­ses Jahr eine will­kom­me­ne Abwechs­lung in die­ser doch so mono­ton gewor­de­nen Filmlandschaft. 

Die Hand­lung des Fil­mes wirkt auf den ers­ten Blick rela­tiv sim­pel: Der Ass­as­si­ne Lady­bug (Brad Pitt) äußert den Wunsch, sei­nen nächs­ten Auf­trag fried­lich zu erle­di­gen, nach­dem zu vie­le vor­he­ri­ge Gigs aus dem Ufer gera­ten sind. Doch das Schick­sal will es anders. Statt einer pazi­fis­ti­schen Zug­fahrt durch das moder­ne Japan ist Lady­bug mit einer Viel­zahl von Geg­nern kon­fron­tiert, die alle das­sel­be Ziel anstre­ben: Den Kof­fer mit unbe­kann­tem Inhalt. Inner­halb des schnells­ten Zuges der Welt brei­tet sich eine action­rei­che und unheim­lich wit­zi­ge Hand­lung aus, die durch die Star­be­set­zung fan­tas­tisch in Sze­ne gesetzt wird. Der Film lebt von sei­nen lang­sam auf­lö­sen­den Geheim­nis­sen, Slap­stick-Humor und ästhe­ti­schen Bil­dern. Es lohnt sich, die­sen Film anzu­se­hen oder um es mit einer Refe­renz aus­zu­drü­cken: Sei kein Die­sel! Zieh dir den Film rein!

Osamu Dazai – No longer Human

Tik­Tok und Bücher? Ich war zunächst auch ver­dutzt, aber Book­Tok kann eine unglaub­li­che Gold­gru­be sein. In die­sem Fal­le sieht man das Poten­ti­al der App, denn der ver­ges­se­ne Klas­si­ker „No lon­ger Human“ wur­de erst­mals im Jah­re 1948 publi­ziert und erlebt jetzt sei­nen zwei­ten Boom in Popu­la­ri­tät. Ohne Tik­Tok wäre ich ver­mut­lich nicht auf die­ses Buch gestoßen.

Der Prot­ago­nist des Buches Oba Yozo por­trä­tiert sich in Dazais auto­bio­gra­phisch refe­ren­zier­tem Werk als Ver­sa­ger und des­halb als nicht mehr mensch­lich. Inner­halb des Buches wird der ewi­ge Kampf einer Per­son dar­ge­stellt, die ver­sucht, ihre Mit­men­schen zu ver­ste­hen. Yozo ist ein Frem­der in der Gesell­schaft. Er führt sich im Kin­des- und Jugend­al­ter als Klas­sen­clown auf, was wäh­rend sei­ner Ado­les­zenz in eine Alko­hol­sucht und einem Selbst­mord­ver­such mün­det. Die­ses Buch erzählt ohne Sen­ti­men­ta­li­tät, beschreibt die nor­ma­ti­ve Grau­sam­keit des Lebens und zeich­net die mensch­li­chen Bezie­hun­gen in einem neu­en Licht auf. Für Fans der japa­ni­schen Lite­ra­tur und für Lieb­ha­ber der düs­te­ren, erdrü­cken­den Stim­mung ist die­ser Text sehr empfehlenswert!

black midi – Hellfire

Die Eng­län­der hat­ten schon mit ihrem Debüt-Album „Schla­gen­heim“ 2019 für Auf­merk­sam­keit gesorgt, aber 2022 hat sich das Math-Rock-Quar­tett selbst über­trof­fen. „Hell­fi­re“ ist, wie der Name schon ver­rät, ein tota­les Cha­os, das man in der Rock-Sze­ne drin­gend braucht. Von expe­ri­men­tel­lem Gebrauch diver­ser Stör­ge­räu­sche und eines wir­ren Radio­mo­de­ra­tors bis hin zu vari­ie­ren­den Gen­re-Ein­brü­chen hat die­ses Album alles. Der inten­si­ve Sprech­ge­sang des Front­mans ver­leiht die­sem Album eine Dyna­mik, die wahr­lich einem höl­li­schen Feu­er ähnelt. “Die bes­te Band, die noch kei­ner kennt”, so bezeich­net das Musik-Maga­zin New Musi­cal Express die Lon­do­ner For­ma­ti­on black midi. Mit sol­chen Releases kann die Band sich sicher nicht mehr lan­ge in Anony­mi­tät hüllen.