Schauinsblau Wrapped 2023 Teil 3

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Col­la­gier­ter Blau­druck: © Mona Wöhrl

Von Andreas Müller, Naomi Barthelmes und Tamara Schindler

Naomi (22) studiert Anglistik/Amerikanistik und will 2024 einfach nur ungestört sie selbst sein.

Das Jahr 2023 woll­te ich posi­ti­ver ange­hen. Es soll­te ein Jahr wer­den, in dem Melan­cho­lie und Pes­si­mis­mus nicht mehr mei­ne Stim­mung und Hand­lun­gen bestim­men. Kläg­li­che Ver­su­che, jeg­li­che Nega­ti­vi­tät aus mei­nem Leben zu ver­ban­nen, führ­ten immer wie­der dazu, dass ich mich in der Lite­ra­tur ver­lor. Auf der Suche nach Ver­ständ­nis für mei­nen Gemüts­zu­stand kämpf­te ich mich durch diver­se Tex­te und auch wenn jeder ein­zel­ne Roman, jede Novel­le und jede Kurz­ge­schich­te dazu bei­getra­gen hat, mei­ne Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit im Leben ein biss­chen bei­sei­te­zu­schie­ben, hat­te ich nie das Gefühl, ver­stan­den zu wer­den. Kein Text schaff­te es, mir das Gefühl zu geben, dass auch schlech­te Pha­sen ihre Daseins­be­rech­ti­gung haben. 

Abschiedsfarben

Aber wie es nun mal so oft der Fall ist, habe ich irgend­wann einen Glücks­tref­fer gelan­det und in Bern­hard Schlinks Abschieds­far­ben (erschie­nen 2020) ein Buch für mich ent­deckt, wel­ches es genau zum rich­ti­gen Zeit­punkt geschafft hat, das aus­zu­drü­cken, wozu ich nicht in der Lage war. In Abschieds­far­ben prä­sen­tiert Schlink neun Kurz­ge­schich­ten, die alle­samt von Abschie­den erzäh­len. Wie der Titel bereits andeu­tet, kön­nen Abschie­de die ver­schie­dens­ten Far­ben haben und somit die ver­schie­dens­ten Gefüh­le aus­lö­sen. Das Farb­spek­trum ist unend­lich und zu den­ken, dass ein Abschied immer aus­schließ­lich posi­tiv oder nega­tiv ist, ist naiv. Trau­er, Reue, Sehn­sucht, aber auch Befrei­ung und Lie­be spie­len eine gro­ße Rol­le inner­halb der ein­zel­nen Tex­te und man rea­li­siert, dass eigent­lich alles im Leben ambi­va­lent ist. Die Kurz­ge­schich­te „Künst­li­che Intel­li­genz“ han­delt bei­spiels­wei­se von dem Ver­rat eines Man­nes an sei­nem mitt­ler­wei­le ver­stor­be­nen bes­ten Freund. In „Alters­fle­cken“ pla­gen einen Mann diver­se Erin­ne­run­gen. Von Pein­lich­kei­ten über Ego­is­mus, bis hin zum all­ge­mei­nem Schei­tern, sei­ne Ver­gan­gen­heit holt ihn ein und er ist mit all­dem kon­fron­tiert, was ein­mal war. Die unter­schied­lichs­ten Geschich­ten wer­den erzählt und immer sind die Protagonist*innen mit ihren Ent­schei­dun­gen und Gefüh­len beschäf­tigt, aber es wird gleich­zei­tig immer wie­der deut­lich, wel­che Rol­le Hoff­nung und Befrei­ung spie­len können. 

Schlink spricht mir in Abschieds­far­ben aus der See­le. Es geht nicht dar­um, jedes nega­ti­ve Gefühl und jeden unbe­que­men Impuls zu unter­drü­cken, son­dern dar­um, auch in nega­ti­ven Gedan­ken und Momen­ten etwas zu fin­den, für das es sich lohnt, alles zu füh­len, ob posi­tiv oder nega­tiv. Man muss sich nicht ein­re­den, dass man immer glück­lich zu sein hat, aber man muss sich dem Nega­ti­ven stel­len und Gefüh­le jeg­li­cher Art zulas­sen, auch wenn das manch­mal unmög­lich erscheint. Die­ser Gedan­ke war so erhel­lend, dass Schlinks Abschieds­far­ben defi­ni­tiv zu mei­nen Favo­ri­ten aus dem Jahr 2023 zählt. 

© Dio­ge­nes Verlag

Tamara studiert Germanistik & Philosophie und möchte 2024 ihren Stapel ungelesener Bücher angehen, der sich in jeder freien Ecke türmt

Mein Jahr 2023 glich einer rasan­ten Ach­ter­bahn­fahrt im Ver­gnü­gungs­park mei­nes Lebens – die wohl eine Wei­le län­ger andau­ern wird. Noch immer ste­hen vie­le Ver­än­de­run­gen an, die ich ins neue Jahr mit­neh­men wer­de. Doch der Anlass für die Tickets die­ser ful­mi­nan­ten Fahrt war ein denk­bar trau­ri­ger. Mei­ne Oma, die, seit ich den­ken kann, wich­ti­ger Bestand­teil mei­nes Lebens war, hat die­ses Jahr ihre letz­te Rei­se ange­tre­ten. Der Tod kam viel zu uner­war­tet, viel zu plötz­lich. Und den­noch hat mir mei­ne Oma mit ihrem Abschied Tickets geschenkt – Tickets in einen neu­en Lebens­ab­schnitt. Denn das war ihr wich­tig: Wir (die Jugend) sol­len raus­ge­hen und was erleben. 

Na ja, ein Spa­zier­gang hät­te es auch getan!

Jetzt sit­ze ich hier im ers­ten Wag­gon, hoch oben, kurz bevor sich die Bahn in die Tie­fe stürzt. Krib­beln im Bauch, Auf­re­gung und auch ein klei­nes biss­chen (für mei­nen Teil ein gro­ßes biss­chen) Angst. Die Fahrt ins Ungewisse.

So habe ich ihren plötz­li­chen Tod zum Anlass genom­men, mich end­lich um mei­ne eige­ne Gesund­heit und mein Glück zu küm­mern. Einen Schritt zu wagen, der mir eine gan­ze Men­ge Mut abverlangt. 

Ich lei­de schon mein Leben lang unter der chro­ni­schen Erkran­kung Lipö­dem. Das ist eine Fett­ver­tei­lungs­stö­rung, die nicht nur Schmer­zen ver­ur­sacht und in der Bewe­gung ein­schränkt, son­dern auch zur psy­chi­schen Belas­tung wer­den kann. End­lich habe ich mich dazu durch­ge­run­gen, mich ope­rie­ren zu las­sen. Denn wer weiß schon, wie kurz die Zeit noch ist, um sei­ne eige­nen Wün­sche zu erfüllen? 

Diagnose Lipödem?

Die Augs­bur­ge­rin Caro­li­ne Sprott hat in die­sem Jahr das Buch Dia­gno­se Lipö­dem? ver­öf­fent­licht. Sie ist selbst davon betrof­fen und lie­fert in ihrem Buch vie­le hilf­rei­che Tipps und Tricks, wie man damit leben ler­nen kann. Gera­de zu Beginn kann die Dia­gno­se ziem­lich über­for­dernd sein und die Flut an Infor­ma­tio­nen einem ziem­lich zu schaf­fen machen. Caro­li­ne Sprotts Buch ist nicht nur Wis­sens­ver­mitt­lung, son­dern fühlt sich an wie eine schrift­li­che Umarmung.

Wenn man sich ein­mal die Zeit nimmt und sich mit sei­ner eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­setzt und nach­forscht, wel­ches Schick­sal die engs­ten Ver­wand­ten erlebt haben, wird man erstaunt sein, was da so alles im Ver­bor­ge­nen schlum­mert. So kommt es, dass ich in die­sem Jahr auch zeit­ge­nös­si­sche Roma­ne für mich ent­de­cken konn­te. Ich lese ger­ne über Fami­li­en­dra­men, die nah am Leben spie­len (oder auch auf wah­ren Bege­ben­hei­ten basieren). 

© herbig

Libellenschwestern

So hat mich Libel­len­schwes­tern von Lisa Win­ga­te ziem­lich bewegt. Die­ser Roman erzählt die Geschich­te von Schwes­tern, die in frü­hen Jah­ren auf unmensch­li­che Wei­se von­ein­an­der getrennt wur­den und im hohen Alter wie­der zuein­an­der­fin­den. Dabei erzählt Win­ga­te mit einem so lei­sen und gefühl­vol­len Schreib­stil, dass das eige­ne Herz wäh­rend des Lesens mehr­fach bricht. Wenn man sich ver­ge­gen­wär­tigt, dass die­ses Buch auf­grund wah­rer Geschich­ten ent­stan­den ist, lässt einen das schon stark an der Mensch­heit zwei­feln. Das ist defi­ni­tiv ein Buch mit Nervenkitzel.

In jeder Tra­gö­die steckt die Kraft für etwas Neu­es. Geht mit euren Groß­el­tern einen Kuchen essen und hört ihnen zu, solan­ge sie euch noch wert­vol­le Geschich­ten erzäh­len können! 

© LIMES Verlag 

Andreas (31) studiert Germanistik und war dieses Jahr mehr Barbie als Oppenheimer 

Kamikazes – Hohes Fest

„Die Brü­der machen’s noch­mal“, heißt es auf Über­sicht, dem letz­ten Track des im Janu­ar ver­öf­fent­lich­ten schon nicht mehr ganz so neu­en Albums Hohes Fest der Kami­ka­zes. Dass damit nicht unbe­dingt zu rech­nen war, zeigt die Tat­sa­che, dass das letz­te Rap-Album von Ant­ago­nist und Mythos, wie sich die bei­den Brü­der nen­nen, fast zehn Jah­re zurück­liegt. Zwar waren die Kami­ka­zes im deut­schen Rap-Unter­grund stets als Pro­du­zen­ten und gele­gent­li­che Fea­ture-Gäs­te (beson­ders im Umfeld des Wup­per­ta­lers Pre­zi­dent) aktiv; gro­ße Ambi­tio­nen, noch ein­mal auf Album­län­ge ans Mikro­fon zu tre­ten, waren jedoch nach eige­nen Aus­sa­gen lan­ge nicht vorhanden.

Wäh­rend Deutschrap-Alben seit jeher dar­an kran­ken, zu oft wie wahl­los zusam­men­ge­stell­te Sam­pler zu wir­ken, weil zu vie­le Produzent*innen mit ver­schie­de­nen Sti­len zusam­men­ge­wür­felt und nur durch die Stim­me der Künstler*innen eini­ger­ma­ßen zusam­men­ge­hal­ten wer­den, spie­len die Kami­ka­zes ihren jah­re­lan­gen Fokus auf Instru­men­tal-Alben als größ­ten Trumpf des Albums aus. Die Erfah­rung, Geschich­ten auf rein musi­ka­li­scher Ebe­ne zu erzäh­len, wird auf Hohes Fest in eine Rei­se über­tra­gen, die jeder­zeit zum Sei­ten­blick in alle Rich­tun­gen ein­lädt. Detail­ver­lieb­te Instru­men­tals, auf denen etwa in Luft­kis­sen­boot nicht ein­mal mehr Pan­flö­ten pein­lich wir­ken, füh­len sich wie klas­sisch durch­kom­po­nier­te Stü­cke an und heben sich so spür­bar von klas­si­schen Hip Hop-Loops ab, ohne die­se Wur­zeln zu vernachlässigen.

 

Auch lyrisch gestal­tet sich das Album viel­sei­tig. Von kryp­ti­schen Bil­dern über All­tags­be­schrei­bun­gen abge­nutz­ter Bezie­hun­gen hin zu einer auf­fal­len­den Lust an Sprich­wör­tern und Wort­spie­len laden die Kami­ka­zes auf Hohes Fest das Charme­bol­zen­schuss­ge­rät (wenn 2023 ein bes­se­res Kof­fer­wort zu bie­ten hat­te, will ich es gar nicht wis­sen!) neun Mal durch, um am Ende doch wie­der bei den Basics anzu­kom­men und die­ses beson­de­re Album mit einem klas­si­schen Repre­sen­ter abzu­schlie­ßen. „Die Brü­der machen’s noch­mal / Sze­ne­stars wer­den zurück­ge­stuft auf otto­nor­mal“. Groß­mäu­lig? Sicher. Aber eben auch wahr. Hohes Fest ist kein Album, das die Modus Mio-Nati­on ver­dient hat, aber eines, das sie bit­ter nötig hatte.

Succession (2018–2023)

Eine Serie per­fekt abzu­schlie­ßen ist eine hohe Kunst, an der vie­le Serienschöpfer*innen schei­tern. Bei Brea­king Bad (2008–2013) ist man sich wei­test­ge­hend einig, dass eine der weni­gen gro­ßen Aus­nah­men geglückt ist, beim Klas­si­ker The Sopra­nos (1999–2007) schei­den sich die Geis­ter bereits und wer mit anschau­en muss­te, was am Ende aus einst so gro­ßer Seri­en­kunst wie Dex­ter oder House of Cards (2013–2018) wur­de, kann vom Leben eigent­lich kaum noch ent­täuscht werden.

Umso erfreu­li­cher ist es, dass Jes­se Arm­strongs Suc­ces­si­on die Erwar­tun­gen, die über drei Staf­feln auf­ge­baut wor­den sind, rund­um erfül­len konn­te. Die Ent­schei­dung, eine der erfolg­reichs­ten Seri­en der letz­ten Jah­re nach nur vier Staf­feln auf ihrem Höhe­punkt enden zu las­sen und nicht den Ver­lo­ckun­gen gut bezahl­ter aber bei­na­he schon zwangs­läu­fig qua­li­ta­tiv ste­tig abbau­en­der Fort­set­zun­gen zu erlie­gen, zahlt sich in die­ser letz­ten Staf­fel voll­kom­men aus. Beson­ders die drit­te Fol­ge der fina­len Staf­fel, Connor’s Wed­ding, ver­schafft immer noch Gän­se­haut — ohne zu spoi­lern han­delt es sich bei die­ser Fol­ge wahr­schein­lich um die bes­te Stun­de Fern­se­hen seit Brea­king Bads vor­letz­ter Fol­ge Ozy­man­di­as.

 

Die dys­funk­tio­na­le Fami­lie rund um den Medi­en­ty­coon Logan Roy zeigt ein letz­tes Mal, dass man ger­ne mal bei einem Abend­essen der Super­rei­chen Mäus­chen spie­len wür­de, aber auch, dass kei­ner der Cha­rak­te­re lang­fri­sitg die Sym­pa­thie der Zuschau­en­den ver­dient hat. Dass man ihnen trotz­dem lie­bend gern dabei zusieht, schlech­te Men­schen zu sein, die der Demo­kra­tie sehen­den Auges beim Ver­en­den zuse­hen, solan­ge sie sich davon einen Vor­teil ver­spre­chen, zeigt, wie fan­tas­tisch die­se Cha­rak­te­re aus­ge­ar­bei­tet sind. Man möch­te nicht mit ihnen befreun­det sein, aber sie wer­den der Seri­en­land­schaft feh­len wie nur weni­ge vor ihnen.