Wie nähert man sich den Dämonen der Vergangenheit?

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Emma Craigie im Interview

von Patrick Müller

Hit­ler ist eben nicht nur ein deut­sches, son­dern ein glo­ba­les (Un)Kulturphänomen — er will grenz­über­grei­fend erfasst, viel­leicht gar erklärt wer­den. Dabei steht immer mehr im Vor­der­grund, sich all­ge­mein dem Men­schen Hit­ler zu nähern; das genu­in deut­sche Ele­ment rückt dabei mit­un­ter in den Hin­ter­grund. Jedoch: wäh­rend sowohl Micha­el But­ter als auch Ste­fan Hirt kürz­lich unab­hän­gig von­ein­an­der Hit­lers Bedeu­tung für die nord­ame­ri­ka­ni­sche Kul­tur­land­schaft gezeigt haben, fehlt eine sol­che Unter­su­chung für den angel­säch­si­schen Raum. Dabei ver­dien­ten Tex­te wie Beryl Bain­brid­ges Young Adolf, Geor­ge Stei­ners­kon­tro­ver­se tour de force The Por­ta­ge to San Cris­tó­bal of A. H. oder A. N. Wil­sons Win­nie and Wolf deut­lich mehr Auf­merk­sam­keit. Im Rah­men eines Semi­nars zum bri­ti­schen Hit­ler­ro­man besuch­te kürz­lich die Schrift­stel­le­rin Emma Crai­gie Erlan­gen, um mit Dozie­ren­den und Stu­die­ren­den über ihren Roman Cho­co­la­te Cake with Hit­ler zu dis­ku­tie­ren. Vom Ver­lag in der Tra­di­ti­on von Judith Kerrs When Hit­ler Sto­le Pink Rab­bit ver­or­tet und somit als Kin­der­buch ver­mark­tet, steht hin­ter Cho­co­la­te Cake with Hit­ler jedoch weit mehr: aus der Sicht der ältes­ten Toch­ter von Hit­lers Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter, Hel­ga Goeb­bels, die letz­ten Tage der Fami­lie im Ber­li­ner Bun­ker schil­dernd, ent­fal­tet der Text im Ver­bund mit Rück­bli­cken in die Jah­re vor dem end­gül­ti­gen Unter­gang des Nazi­rei­ches enor­men psy­cho­lo­gi­schen Tief­gang. Cho­co­la­te Cake with Hit­ler ist dem­nach kein Hit­ler­ro­man im eigent­li­chen Sin­ne, der die Figur Hit­lers und des­sen Den­ken in den Vor­der­grund rückt. Gera­de durch den Blick in die see­li­schen Abgrün­de eini­ger sei­ner Ver­trau­ten ent­steht ein nuan­cier­tes Bild, das auch neue Per­spek­ti­ven auf eine lan­ge bloß dämo­ni­sier­te, als ent­mensch­lich­te Ver­kör­pe­rung des Bösen ange­se­he­ne Figur zulässt.

SCHAU INS BLAU: Mrs Crai­gie, wie ent­stand die Idee zu die­sem unge­wöhn­li­chen Projekt?

EMMA CRAIGIE: Auf ver­schlun­ge­nen Pfa­den. 2006 ver­öf­fent­lich­te ich in der belieb­ten Who Was…-Rei­he eine für Kin­der gedach­te Bio­gra­phie Hein­rich des Ach­ten, die eini­gen Anklang fand. Anschlie­ßend erdach­te ich zusam­men mit dem Ver­lag den Plan, in eben die­ser Rei­he eine Bio­gra­phie Adolf Hit­lers zu ver­öf­fent­li­chen. Also begann ich, zu recher­chie­ren und besorg­te mir zahl­rei­che Bücher über Hit­ler, das Drit­te Reich und den Holo­caust. Je tie­fer ich jedoch in die Mate­rie ein­drang, des­to grö­ßer wur­de mei­ne Unsi­cher­heit, wie ich das Pro­jekt letzt­end­lich ange­hen sol­le. Es schien, als wol­le es mir ein­fach nicht gelin­gen, in dem sehr begrenz­ten Rah­men der Who Was…-Bücher eine der zugleich fas­zi­nie­rends­ten wie auch absto­ßends­ten Per­sön­lich­kei­ten der Welt­ge­schich­te zu por­trä­tie­ren, zumal bereits eine beträcht­li­che Anzahl an Lite­ra­tur für die Ziel­grup­pe exis­tiert. Schließ­lich kam ich an einen Punkt, da die Gewiss­heit in mir reif­te, dass ich das Pro­jekt ent­we­der kom­plett abbre­chen oder aber voll­kom­men anders gestal­ten müs­se. Also ging ich in mich und such­te nach neu­en Inspi­ra­ti­ons­quel­len bis end­lich, auch unter dem Ein­druck des Films Der Unter­gang, die Idee ent­stand, eine Geschich­te nicht für Kin­der son­dern aus der Sicht eines Kin­des zu erzählen.

SCHAU INS BLAU: Ihr Ver­lag ver­mark­te­te Cho­co­la­te Cake with Hit­ler als Kin­der­buch. Ist es das auch?

EMMA CRAIGIE: Ganz klar: Nein! Die Ver­mark­tung war wohl der gera­de geschil­der­ten Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Tex­tes geschul­det sowie einer gewis­sen Ver­un­si­che­rung, in wel­che Kate­go­rie Cho­co­la­te Cake with Hit­ler ein­zu­stu­fen sei. Letzt­end­lich wid­met sich der Roman The­men, deren Kom­ple­xi­tät weit über die in einem Kin­der­buch ver­han­del­ba­ren Inhal­te hinausgeht.

SCHAU INS BLAU: Was war der Aus­lö­ser für die Wahl die­ser unge­wöhn­li­chen Erzählperspektive?

EMMA CRAIGIE: Letzt­lich gab es drei ver­schie­de­ne Grün­de, aber haupt­säch­lich lag es dar­an, dass ich eine unmit­tel­ba­re, sehr per­sön­li­che Ver­bin­dung mit Hel­ga Goeb­bels emp­fand, als ich mit mei­nen Recher­chen zu ihrer Per­son begann. Der offen­sicht­lichs­te und banals­te Grund dafür war zunächst fol­gen­der: Wie Hel­ga bin ich die ältes­te Toch­ter in einer recht gro­ßen Fami­lie (Anm. des Ver­fas­sers: Mag­da Goeb­bels brach­te ihren Sohn Harald mit in ihre zwei­te Ehe). Ich erin­ner­te das Alter, in dem Hel­ga schließ­lich in den Bun­ker ging, näm­lich mit 12 Jah­ren, als beson­ders dif­fi­zi­le Zeit im Leben einer Her­an­wach­sen­den in die­ser Aus­gangs­la­ge — man ist weder Teil der Welt der jün­ge­ren Geschwis­ter, noch jener der Eltern. Außer­dem näher­te ich mich dem Pro­jekt unter der Prä­mis­se, einen nicht-fik­tio­na­len Text zu ver­fas­sen, von denen es jedoch wie erwähnt bereits eine gro­ße Zahl gab, wäh­rend mir die neue Her­an­ge­hens­wei­se frisch und unver­braucht erschien. Hit­ler ist eine der­art dämo­ni­sier­te Gestalt, dass mir beson­ders wich­tig war, ihn als mensch­li­ches Wesen zu ver­ste­hen. Wenn wir ihn dämo­ni­sie­ren, fällt es uns leicht, zu argu­men­tie­ren, wir selbst sei­en nicht im Ansatz so wie er. Die­se Sicht­wei­se ist ins­be­son­de­re in Eng­land noch sehr weit ver­brei­tet, da wir uns ger­ne als auf der Sei­te des “Guten” ste­hend sti­li­sie­ren. Da war also die­se als abgrund­tief böse sti­li­sier­te Figur, von der wir uns voll­kom­men abkop­peln möch­ten, und gera­de des­we­gen war die kind­li­che Per­spek­ti­ve für mich so inter­es­sant, da ein Kind immer zunächst das rein Mensch­li­che wahr­nimmt, sodass dies ein Weg war, Hit­ler als Men­schen, als Per­son in den Mit­tel­punkt zu stel­len. Der drit­te Grund war eher tech­ni­scher Natur: als Schrift­stel­ler akzep­tiert man deut­li­che Ein­schrän­kun­gen, wenn man sich auf die Per­spek­ti­ve eines ein­zel­nen Cha­rak­ters kon­zen­triert. In die­sem Buch erwies sich die­se Kon­zen­tra­ti­on jedoch als dien­lich, da es sich gera­de mit sol­chen Limi­tie­run­gen beschäf­tigt. Schließ­lich han­delt es davon, gefan­gen zu sein, und zwar nicht nur im wört­li­chen Sin­ne in Hit­lers Bun­ker, son­dern auch im Kon­text des Holo­caust, für den die Fra­ge der Per­spek­ti­ve eben­falls von zen­tra­ler Bedeu­tung ist: wer wuss­te was wann, und natür­lich besteht hier eine Ver­bin­dung zur all­ge­mein ein­ge­schränk­ten Erkennt­nis­fä­hig­keit von Indi­vi­du­en. Ich woll­te in die­se “Rea­li­tät” ein­tau­chen, um mich der Zeit, in der sich die Hand­lung des Buches voll­zieht, nähern zu kön­nen. Daher ent­schied ich mich gegen einen all­wis­sen­den Erzäh­ler, denn dies scheint, oder zumin­dest neh­men wir es so wahr, das Pri­vi­leg der nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen zu sein, eben jene all­um­fas­sen­de Per­spek­ti­ve ein­neh­men zu kön­nen, und dies ist schließ­lich um ein Viel­fa­ches angenehmer.

SCHAU INS BLAU: Wie näher­ten Sie sich schließ­lich der Figur Hitlers?

EMMA CRAIGIE: Hier waren es foto­gra­fi­sche und fil­mi­sche Quel­len, die mich inspi­rier­ten. Ich war nicht so sehr an sei­ner Ideo­lo­gie, son­dern viel­mehr an der Per­son inter­es­siert. Hier­für stu­dier­te ich etwa sei­ne extre­me Kör­per­spra­che, und mei­ne Leit­fra­ge war dabei immer wie­der: wie wirk­te die­ser Mann wohl auf Kin­der? Ich las zudem Tei­le von Hit­lers Tisch­ge­sprä­chen, um her­aus­zu­fin­den, wie er in nicht offi­zi­el­len Kon­tex­ten sprach und wie er sich gab. Es scheint, dass er Men­schen nicht sel­ten lang­weil­te, und so schien es mir, als hät­te die Kluft zwi­schen der pri­va­ten und der öffent­li­chen Per­son kaum grö­ßer sein können.

SCHAU INS BLAU: Der Roman wird von eini­gen Zita­ten ein­ge­lei­tet, von denen jenes aus Nicho­las Star­gardts Wit­nesses of War: Children’s Lives under the Nazis her­vor­sticht: “Die Erfah­rungs­wel­ten von Kin­dern ver­die­nen es, über eth­ni­sche und natio­na­le Gren­zen hin­weg zur Kennt­nis genom­men zu wer­den, und zwar nicht auf­grund ihrer Ähn­lich­kei­ten, son­dern gera­de weil die extre­men Unter­schie­de uns dabei hel­fen, die sozia­le Ord­nung der Nazis in ihrer Ganz­heit wahr­zu­neh­men. Weder waren Kin­der bloß die stum­men und trau­ma­ti­sier­ten Zeu­gen die­ses Krie­ges, noch waren sie aus­schließ­lich des­sen unschul­di­ge Opfer. Sie leb­ten auch in die­sem Krieg, spiel­ten und ver­lieb­ten sich wäh­rend des Krie­ges; der Krieg erober­te ihre Ima­gi­na­ti­on, in der er auch gleich­zei­tig wüte­te” (Über­set­zung PM). Sie spra­chen bereits kurz über die Erfah­rungs­welt von Kin­dern — haben Sie auch in die­se Rich­tung recher­chiert, nach­dem die Ent­schei­dung für die Erzähl­per­spek­ti­ve gefal­len war?

EMMA CRAIGIE: Zunächst las ich eini­ge Bio­gra­phien über Hel­gas Eltern Joseph und Mag­da. Mei­ne Recher­che zu den Kin­dern war erneut eher visu­el­ler Natur, da es kaum Lite­ra­tur über sie gibt. Ich las die Memoi­ren Traudl Jungs sowie natür­lich jene der Erzie­he­rin der Goeb­bels-Kin­der in den letz­ten Kriegs­jah­ren, Petra Fohr­manns Die Kin­der des Reich­mi­nis­ters, aber abge­se­hen davon zog ich kei­ne Lite­ra­tur zu Rate. Es gibt eine Fül­le foto­gra­fi­scher Quel­len, die im Inter­net leicht zugäng­lich sind. Zudem sah ich mir die Fil­me an, die Goeb­bels von sei­nen Kin­dern dre­hen ließ. Natür­lich ist all die­sem Mate­ri­al eine pro­pa­gan­dis­ti­sche Dimen­si­on ein­ge­schrie­ben, jedoch sind Kin­der nicht so leicht zu kon­trol­lie­ren, wie es in die­sem Fal­le wohl ange­dacht war. Sie schau­en also stän­dig umher und wer­den abge­lenkt oder man sieht an ihrem Gesichts­aus­druck, dass sie unzu­frie­den waren. Bezüg­lich der Umstän­de, die im Bun­ker herrsch­ten, wis­sen wir bekannt­lich sehr genau, was etwa um wel­che Uhr­zeit geschah, wer wann in den Bun­ker kam und so wei­ter. Es gab also man­nig­fal­ti­ge Infor­ma­tio­nen, die mir bei der Rekon­struk­ti­on der chro­no­lo­gi­schen Struk­tur hal­fen, aber bezüg­lich der Cha­rak­te­re an sich hat­te ich nur spär­li­che Informationen.

SCHAU INS BLAU: Die Struk­tur des Tex­tes ist so ange­legt, dass er sich nicht aus­schließ­lich mit den zehn Tagen im Bun­ker beschäf­tigt, son­dern auch ver­mit­tels Rück­blen­den psy­cho­lo­gi­sche Detail­ar­beit leis­tet. Kamen sie jemals an den Punkt, wo Ihnen auch die­ses Pro­jekt zu ambi­tio­niert erschien?

EMMA CRAIGIE: Ja, und zwar in zwei­er­lei Hin­sicht. Inter­es­san­ter­wei­se kon­zen­trier­te ich mich in einem ers­ten Ent­wurf tat­säch­lich aus­schließ­lich auf die Zeit im Bun­ker. Die Rück­blen­den exis­tier­ten ledig­lich in Form eini­ger Erin­ne­rungs­fet­zen Hel­gas, die spä­ter als Grund­la­ge für die aus­führ­li­chen Erin­ne­rungs­se­quen­zen dien­ten. Jedoch war die­se Ver­si­on des Tex­tes uner­träg­lich für mich, da eine der­art klaus­tro­pho­bi­sche Atmo­sphä­re herrsch­te, dass ich dach­te: das hier will kein Mensch lesen.

SCHAU INS BLAU: Viel­leicht ori­en­tier­te sich die­se Ver­si­on Ihrer Auf­fas­sung nach auch ein wenig zu nah an ihrer Inspi­ra­ti­ons­quel­le Der Untergang?

EMMA CRAIGIE: Exakt, wenn auch der Fokus ein ande­rer war. Zum Glück habe ich einen her­vor­ra­gen­den Kor­rek­tur­le­ser und nach­dem wir den Text dis­ku­tiert hat­ten, ent­schied ich mich, Hel­gas Erin­ne­run­gen mehr Raum zu gewäh­ren und den Bun­ker zu ver­las­sen. Das war eine gro­ße Erleich­te­rung für mich, auch wenn man viel­leicht der Mei­nung sein könn­te, dass ich so der Klaus­tro­pho­bie, die Hel­ga im Bun­ker befal­len haben mag, nicht mehr gerecht wer­de. Aller­dings konn­te ich so auch eine neue Dimen­si­on schaf­fen, da Hel­ga 1932 gebo­ren wur­de und ihr Leben somit eng mit dem Auf­stieg und Unter­gang der Nazis ver­bun­den war. Außer­dem hat­te ich mit­un­ter mora­li­sche Beden­ken und Skru­pel, etwa der Art: wie kann ich einen Text zu Ende brin­gen, an des­sen Ende unwei­ger­lich der Tod Hel­gas steht, und zwar ein Tod, der von den eige­nen Eltern insze­niert wird? Ein schreck­li­cher Gedan­ke, der mich oft verfolgte.

SCHAU INS BLAU: Da Sie den his­to­ri­schen Aspekt selbst erwäh­nen: wie wich­tig war Ihnen his­to­ri­sche Genau­ig­keit, und inwie­fern muss­te sich die­se den psy­cho­lo­gi­schen Ein­sich­ten des Romans unterwerfen?

EMMA CRAIGIE: Der Roman ist natür­lich eng an his­to­ri­sche Bege­ben­hei­ten gebun­den, zumin­dest nach bes­tem Wis­sen und Gewissen.Wie vie­le his­to­ri­sche Roma­ne, beru­fen sich eini­ge der Epi­so­den auf Gescheh­nis­se in der Ver­gan­gen­heit und fül­len die lee­ren Stel­len ver­mit­tels der Ima­gi­na­ti­on. Aber dies ist nur ein Aspekt. Ande­re Text­bau­stei­ne sind frei erfun­den, ins­be­son­de­re die meis­ten der Gesprächs­si­tua­tio­nen. Mein Erkennt­nis­in­ter­es­se lag jedoch dar­in, die gro­ße Fra­ge zu ergrün­den, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben, der der­ar­tig abscheu­li­che Din­ge tut, einen gleich­zei­tig jedoch liebt. Wel­che Art mora­li­scher Inte­gri­tät kann ein Kind unter die­sen Umstän­den ent­wi­ckeln? Die Psy­cho­lo­gie stand also im Vor­der­grund. Ange­sichts der mir vor­lie­gen­den Infor­ma­tio­nen ent­wi­ckel­te sich schnell die Vor­stel­lung einer psy­cho­lo­gi­sie­ren­den Erzäh­lung über Hel­gas Leben. Da wäre zum Bei­spiel die auf dem Umschlag des Buches zu fin­den­de Foto­gra­fie: Hel­ga sitzt neben Hit­ler, wen­det sich aber deut­lich von ihm ab, und zwar mit einem ängst­li­chen Gesichts­aus­druck. Ich spür­te, dass sie ihn absto­ßend fand, und es gibt ande­re Fotos, auf denen sie neben ihrem Vater ste­hend den Hit­ler­gruß zeigt, aber offen­sicht­lich nur, um dem Wil­len ihres Vaters zu ent­spre­chen und ihn zufrie­den zu stel­len. Die furcht­ba­re, sich aus den Aut­op­sie­be­rich­ten rus­si­scher Ärz­te erge­ben­de Vor­stel­lung, dass Hel­ga sich ihrer Ermor­dung kör­per­lich wider­setz­te, kann als Chif­fre für ihren Ver­such gese­hen wer­den, sich gegen die sie umge­ben­de unsicht­ba­re, über­wäl­ti­gen­de Macht zur Wehr zu set­zen. Dies war ein ande­rer Aspekt, der mich zu die­sem Pro­jekt hinzog.

SCHAU INS BLAU: Ihr Buch ist mit einem aus­führ­li­chen Anhang aus­ge­stat­tet, der Ori­gi­nal­do­ku­men­te wie Brie­fe sowie Infor­ma­tio­nen zu den his­to­ri­schen Umstän­den und den ein­zel­nen Cha­rak­te­ren ent­hält. Wel­che Absicht ver­folg­ten Sie damit?

EMMA CRAIGIE: Die Fra­ge, die sich mir stell­te war: war­um han­del­ten Mag­da und Joseph Goeb­bels so, wie sie es taten? Was mich wirk­lich erstaun­te, waren die­se uns heut­zu­ta­ge zum Glück vor­lie­gen­den Brie­fe aus dem Bun­ker, in denen sie die Grün­de ihres Han­deln dar­le­gen. Auf­grund mei­ner Erzähl­per­spek­ti­ve war es mir nicht mög­lich, die­se Grün­de zu erör­tern, zumal die bei­den ihre Kin­der nach­weis­lich täusch­ten, sodass die­se dach­ten, der Krieg sei bald gewon­nen und alles wer­de gut. Was mich wirk­lich fas­zi­nier­te, war der offen­sicht­li­che Ver­such, Ihr Han­deln in mora­li­scher Hin­sicht nicht nur zu erklä­ren, son­dern auch zu recht­fer­ti­gen: alles dreht sich um Loya­li­tät, dar­um, zu Dei­nen Idea­len zu ste­hen. Der Umstand, dass die­se offen­bar psy­chisch schwer ver­wun­de­ten (PM: im Ori­gi­nal “incre­di­bly dama­ged”) Men­schen sich im Recht sahen, ja sogar glaub­ten, etwas Gutes zu tun, trieb mich um. Goeb­bels sah sich selbst vol­ler Stolz als mora­li­sche Instanz, und ich fand, man soll­te dies unbe­dingt her­aus­stel­len. Die­se Dis­kre­panz zwi­schen eige­ner Wahr­neh­mung und der Wahr­neh­mung ins­be­son­de­re der Nach­welt ist faszinierend.

SCHAU INS BLAU: Trotz Hel­ga ist Mag­da Gobe­bels die wohl wich­tigs­te Figur in ihrem Roman. War­um steht sie so sehr im Vordergrund?

EMMA CRAIGIE: Mag­da Goeb­bels hat mich wirk­lich fas­zi­niert. Ich den­ke, es ist sehr inter­es­sant, sich mit ihr aus­ein­an­der zu set­zen und zu ver­su­chen, ihr Wesen ver­ste­hen. Eine Aus­sa­ge, gleich­zei­tig in Form einer Fra­ge, mit der ich in Gesprä­chen über Cho­co­la­te Cake with Hit­ler immer wie­der kon­fron­tiert wur­de, ist fol­gen­de: Ich kann nicht ver­ste­hen, wie eine Mut­ter so etwas tun kann. Als Reak­ti­on dar­auf habe ich mich kun­dig gemacht und bin auf vie­le wei­te­re Fäl­le gesto­ßen, in denen Eltern ihre Kin­der töte­ten, und zwar weil sie dach­ten, deren Zukunft sei hoff­nungs­los. Das ist nicht so unge­wöhn­lich, wie wir viel­leicht glau­ben. Im Rah­men mei­ner Recher­chen stieß ich auf einen Aspekt, der mir auch auf Mag­da und Joseph Goeb­bels zuzu­tref­fen scheint: sol­che Leu­te kön­nen ihre Kin­der nicht als eigen­stän­di­ge, von ihnen getrennt zu betrach­ten­de Indi­vi­du­en wahr­neh­men. Wenn sie also den­ken, dass sie selbst kei­ne Zukunft mehr haben, über­tra­gen sie die­se Wahr­neh­mung auf ihre Kin­der. Und so gibt es immer wie­der furcht­ba­re Fäl­le, in denen etwa ein Vater ange­sichts gro­ßer finan­zi­el­ler Pro­ble­me sei­ne gan­ze Fami­lie tötet. Ich füh­re dies nicht sel­ten auf in der Kind­heit erlit­te­ne Trau­ma­ta zurück, und dies trifft für mein Dafür­hal­ten in beson­de­rem Maße auf Mag­da Goeb­bels zu. Gleich­zei­tig war sie mit einem außer­or­dent­li­chen Selbst­er­hal­tungs­trieb aus­ge­stat­tet. Die Art und Wei­se, wie sie trotz ihrer Her­kunft Bezie­hun­gen mit mäch­ti­gen Män­nern ein­ge­hen und auf­recht erhal­ten konn­te, ist voll­kom­men außer­ge­wöhn­lich. Sie steht qua­si als leuch­ten­des Bei­spiel für vie­le Men­schen jener Zeit, die trotz oder gera­de auf­grund zahl­rei­cher psy­chi­scher Ver­let­zun­gen erfolg­rei­che Über­le­bens­stra­te­gien ent­wi­ckel­ten. Offen­bar war dies auch eine Welt, die den Nähr­bo­den für sol­che “Kar­rie­ren” berei­te­te. Dabei fand ich es schwie­rig, eine Balan­ce zwi­schen Ver­ste­hen und Ent­schul­di­gen zu fin­den. Um letz­te­res ging es mir mit­nich­ten, son­dern viel­mehr dar­um, die Ursa­chen für ein sol­ches Ver­hal­ten zu ergründen.

SCHAU INS BLAU: Trau­ma stu­dies sind eine der momen­tan ein­fluss­reichs­ten Strän­ge in der ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur­theo­rie. In Beryl Bain­brid­ges Young Adolf erscheint der jugend­li­che Hit­ler selbst als von schwe­ren Kind­heits­trau­ma­ta gezeich­ne­ter Cha­rak­ter, und eini­ge Stu­die­ren­de äußer­ten die Befürch­tung, dass er der­ge­stalt für sei­ne spä­te­ren Taten zumin­dest teil­wei­se ent­schul­digt wer­den kön­ne. In ihrem Text fin­den sich zwei ver­schie­de­ne Aspek­te von Trau­ma­ta: die per­sön­li­chen Trau­ma­ta von Mag­da und Hel­ga Goeb­bels, die sich vor dem Hin­ter­grund des kol­lek­ti­ven Trau­mas des Holo­caust ent­fal­ten. Ein Aspekt, der schon seit den Anfän­gen der Psy­cho­ana­ly­se in trau­ma stu­dies immer wie­der in den Vor­der­grund gerückt wird ist der, dass die Trau­ma­ta nur dann wirk­lich ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen, wenn sie ver­ba­li­siert wer­den. Ihr Roman gibt den Sprach­lo­sen eine Stim­me, endet aber zwangs­läu­fig in Totenstille…

EMMA CRAIGIE: Die­ser sehr tech­ni­sche, theo­re­ti­sche Hin­ter­grund war mir nicht bewusst. Wes­sen ich mir jedoch sehr wohl bewusst war, ist die Tat­sa­che, dass ich mich im Kon­text des größ­ten euro­päi­schen Trau­mas des 20. Jahr­hun­derts beweg­te — und dass Hel­ga die­ses in gewis­ser Wei­se reprä­sen­tiert. Als ich mit der Arbeit an mei­nem Roman begann, erschien John Boy­nes Der Jun­ge im gestreif­ten Pyja­ma. Die­ses Buch unter­schei­det sich stark von mei­nem, da es sich in gerin­ge­rem Maße auf his­to­ri­sche Bege­ben­hei­ten beruft. Es han­delt sich um die Geschich­te eines Jun­gen, des­sen Vater nach Ausch­witz abkom­man­diert wird, um dort aktiv an der End­lö­sung mit­zu­ar­bei­ten. Was ich inter­es­sant fand, war der ver­gleich­ba­re Ansatz: einen Text aus der Sicht eines Kin­des zu schrei­ben. Ich den­ke, dies spie­gelt eine Ent­wick­lung im eng­lisch­spra­chi­gen Raum wider: wir, und damit mei­ne ich die brei­te Öffent­lich­keit, haben Hit­ler und die Nazis lan­ge Zeit dämo­ni­siert und ver­teu­felt, und nun scheint es an der Zeit, die das Schwarz umge­ben­den Grau­tö­ne zu erfor­schen. Dass die­se bei­den Bücher in rela­tiv kur­zer Zeit erschie­nen zeigt mir: wir schei­nen nun bereit, uns der Nazi­zeit aus ande­rer Per­spek­ti­ve zu nähern. Es geht um per­sön­li­che Schick­sa­le, dar­um, was es für Fami­li­en bedeu­te­te, Teil einer gigan­ti­schen Maschi­ne­rie zu sein. Wenn ich also Hel­ga eine Stim­me gebe, so ist dies ein Bau­stein die­ses Annäherungsprozesses.

SCHAU INS BLAU: Sie erwäh­nen die Sicht der bri­ti­schen Öffent­lich­keit auf die Nazi­zeit. Wie wur­de Ihr Roman aufgenommen?

EMMA CRAIGIE: Anders als Boy­nes Buch wur­de Cho­co­la­te Cake with Hit­ler kein Best­sel­ler, auch wenn der Roman für zwei Lite­ra­tur­prei­se nomi­niert wur­de (PM: für den Finan­cial Times / Aut­hors Club First Novel Award sowie die CILIP Car­ne­gie Medal 2011) und es fünf Auf­la­gen gab. Im Lau­fe der Zeit habe ich zudem zahl­rei­che Lesun­gen gehal­ten und wur­de so mit einer Viel­zahl per­sön­li­cher Reak­tio­nen kon­fron­tiert. Es war inter­es­sant zu sehen, dass ich auch Auf­klä­rungs­ar­beit leis­te­te, denn etwa die Hälf­te mei­ner Leser war sich des Schick­sals der Goeb­bels-Kin­der nicht bewusst. All­ge­mein waren die Reak­tio­nen nur spo­ra­disch nega­tiv. Ein jüdi­scher Freund etwa frag­te mich, als er von dem Pro­jekt hör­te, wie ich bloß an einem sol­chen The­ma arbei­ten kön­ne — und genau die­se Reak­ti­on erwar­te­te ich auch im Feuil­le­ton, als der Text dann erschien. Jedoch scheint es, wie erwähnt, nun­mehr eine Ten­denz in mei­ner Hei­mat zu geben, die Nazi­zeit in nuan­cier­ter Wei­se ver­ste­hen zu wol­len. Das kam mir sicher­lich zugute.

SCHAU INS BLAU: Sie haben für Ihr Buch nicht in Deutsch­land recher­chiert — nach­dem Sie nun in einer Stadt wie Nürn­berg, mit ihrem gewal­ti­gen his­to­ri­schen Erbe, nicht zuletzt auch eini­ge der zeit­ge­schicht­lich rele­van­ten Orte erlebt haben: sehen Sie Ihren Roman nun viel­leicht in einem ande­ren Licht als zuvor?

EMMA CRAIGIE: Es war eigent­lich unge­heu­er­lich, dass gera­de ich die­ses Buch schrieb. Es war damals gera­de­zu ein inne­rer Zwang für mich, dies zu tun. Heu­te den­ke ich, dass ich, wäre ich damals nach Deutsch­land gekom­men, das Pro­jekt mit hoher Wahr­schein­lich­keit auf­ge­ge­ben hät­te. Ich wur­de von dem Fakt, Deutsch­land nicht besucht zu haben, gewis­ser­ma­ßen davor bewahrt. Letzt­lich jedoch han­delt der Roman von Men­schen, und so ver­han­delt er The­men, die natio­na­le Gren­zen bei wei­tem sprengen.

SCHAU INS BLAU: Inwie­fern beein­fluss­te es Ihre Arbeits­wei­se, einen Roman in eng­li­scher Spra­che zu ver­fas­sen, des­sen Cha­rak­te­re die­ser Spra­che meist nicht ein­mal mäch­tig waren?

EMMA CRAIGIE: Ich arbei­te­te mit einem Über­set­zer zusam­men, was sich als äußerst hilf­reich erwies, denn ansons­ten hät­te ich nicht wirk­lich an dem Buch arbei­ten kön­nen. Es gab dann doch eini­ge Quel­len, die nicht in eng­li­scher Spra­che zugäng­lich waren. In sprach­li­cher Hin­sicht fokus­sier­te ich mich auf den “säch­si­schen” Anteil in unse­rer Spra­che, ver­such­te also, dem Deut­schen zumin­dest annä­hernd zu ent­spre­chen. Daher wäre es wirk­lich sehr inter­es­sant, eine deut­sche Über­set­zung zu haben.

Der genu­in trans­kul­tu­rel­le Ansatz Emma Crai­gies könn­te dann dazu bei­tra­gen, uns Deut­schen zu zei­gen, wie sehr wir beim Ver­ste­hen unse­rer Ver­gan­gen­heit auf exter­ne Impul­se ange­wie­sen sind.