Tunnel 47

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von Carina Knobloch

 

»Wann tref­fen wir drei wie­der zusamm?«

»Um die sie­ben­te Stund’,am Brückendamm.«

»Am Mit­tel­pfei­ler.«

»Ich lösche die Flamm.«

»Ich mit.«

»Ich kom­me vom Nor­den her.«

»Und ich vom Süden.«

»Und ich vom Meer.«

»Hei das gibt ein Ringelreihn,

und die Brü­cke muß in den Grund hinein.«

»Und der Zug, der in die Brü­cke tritt

um die sie­ben­te Stund’?«

»Ei der muß mit.«

»Muß mit«

»Tand, Tand

ist das Gebil­de von Men­schen­hand!« — Theo­dor Fontane.

Sie füh­len sich selbst­be­stimmt, aut­ark und frei. Sie den­ken, sie sei­en die Herr­scher der Welt. Die Erde dre­he sich um sie, die Men­schen. 

Nichts ist gefähr­li­cher, als sich in Sicher­heit zu wiegen.

Schott­land, 28. Dezem­ber 1879

Tun­nel 47

Noch ein Strich. Mei­ne Mut­ter schal­te­te die Schein­wer­fer ein, kei­ne zwei Sekun­den spä­ter lie­ßen wir das Son­nen­licht hin­ter uns und tauch­ten in das dunk­le Gestein. Tun­nel 47. Das mono­to­ne Brum­men des Motors mach­te mich schläf­rig. Den Kopf an die Fens­ter­schei­be gelehnt, starr­te ich die Rei­fen der Autos an, die an uns vor­bei­rausch­ten. Wenn man lan­ge genug hin­sah, wirk­te es, als wür­den sie sich rück­wärts dre­hen. Ich genoss das Nichts­tun. Es lief ein Hör­spiel mei­ner klei­nen Schwes­ter, das stimm­te sie zufrie­den, trotz der lan­gen Auto­fahrt. 

Kurz hell, als wür­de man bei einem alt­mo­di­schen Dia­pro­jek­tor ein Bild wei­ter­schal­ten, und schon wie­der war es dun­kel. 

»Ich hab noch nie so vie­le Tun­nels gese­hen.« 

Lil­li mal­te einen wei­te­ren Strich auf ihre Lis­te. 

»Tun­nel«, ver­bes­ser­te mei­ne Mut­ter sie. »Oder was auch immer das hier sein soll.« 

Der Zustand der Röh­ren hat­te sich phä­no­me­nal ver­schlech­tert, seit wir die ita­lie­ni­sche Gren­ze pas­siert hat­ten. Spär­li­che Beleuch­tung, von den Wän­den brö­ckeln­der Putz und ungleich­mä­ßig auf­ge­häng­te Not­aus­gang­schil­der. Wenn es denn über­haupt wel­che gab. 

Jetzt war der Urlaub vorbei.

Die klei­ne Küs­ten­stadt war wirk­lich schön gewe­sen. Bei­na­he male­risch ein­ge­bet­tet zwi­schen dem end­lo­sen Oze­an und pro­mi­nen­ten Ber­gen, die sich bis weit ins Lan­des­in­ne­re erstreck­ten. Die Häu­ser waren in gelb-oran­gen Far­ben gehal­ten, was das Gan­ze aus der Fer­ne wie einen Zitro­nen­baum wir­ken ließ. Eine Bri­se weh­te vom Meer hoch hin­auf ins Gebir­ge, es roch sal­zig und nach Süden. 

Lil­li saß neben mei­ner Mut­ter auf dem Bei­fah­rer­sitz und übte Kar­ten­le­sen, als die Rück­lich­ter des Autos vor uns immer roter wur­den. Es krach­te. Ich sah fast nichts, es war dun­kel, und alles ging ganz schnell. Aber ich lieb­te Lil­li, ich lieb­te mei­ne klei­ne Schwes­ter. Es knall­te, Brem­sen quietsch­ten, Still­stand. Mein Kopf, der nach vor­ne flog, der Gurt, der mir die Luft abschnürte.

Schreie. 

Panik. 

Stil­le. 

Noch ein lau­ter Knall, es wur­de warm, wär­mer. Licht fla­cker­te. Loder­te. Alles dreh­te sich, Licht ver­schwamm zu Krei­sen, als wür­de man bei Nacht die Kame­ra nicht ruhig hal­ten. Es roch selt­sam, ich bekam schlecht Luft.

Wie­der Stil­le. 

Ich ver­such­te, die Augen offen zu hal­ten. Ein dunk­les Auto, das mit quiet­schen­den Rei­fen davon fuhr. Schnell, sehr schnell, schon war es weg. Alles war doch so lang­sam. 

Stil­le.

Die Tun­nel­be­leuch­tung fla­cker­te und fla­cker­te, wie ein Meer aus Glüh­würm­chen. Dann wur­de der Him­mel schwarz. Unten. Das Meer? 

Alles dreh­te sich. 

Dafür war es warm, und ein neu­es Licht kam auf uns zu. 

Auf uns?

Ja, auf mei­ne Mama, mei­ne Schwes­ter und mich. Auf mei­ne Familie.

Aber mei­ne Fami­lie schlief. 

Ich woll­te auch schla­fen. 

Ich war so müde.

Mar­tins­horn. Konn­te das mal jemand ausschalten?

So laut. 

Schein­wer­fer. Blaulicht.

Ich war doch so müde. 

Als alles ver­schwamm und schwarz wur­de — Stille.

Ich lag. Soviel regis­trier­te mein Gleich­ge­wichts­sinn noch. Aber ich dreh­te mich auch irgend­wie. Und gleich­zei­tig zog mich eine unge­mei­ne Kraft tie­fer in den Unter­grund. Schwer war ich. Ver­stei­nert waren mei­ne Glie­der. Und Stei­ne lagen auf mei­nen Augen. 

Es dreh­te sich. Ich dreh­te mich. Die Stil­le kam und ging. Manch­mal hör­te ich lei­se Stim­men. Nicht so, dass man sie ver­ste­hen wür­de, aber so, dass man wuss­te, jemand war da. Meis­tens waren die Stim­men hek­tisch und unfreund­lich, und ich woll­te sie nicht ertra­gen. Dann war­te­te ich ein­fach, bis ich wie­der tief in das Schwarz geso­gen wur­de. 

In einem selt­sa­men Über­gang zwi­schen leicht und schwarz ver­gaß das Schwarz, die Stei­ne in mei­ne Augen­li­der zu legen, und ich konn­te sie ein biss­chen heben. Da wur­de es gelb. Aber nicht schön hell, so wie im tie­fem Schwarz, son­dern unan­ge­nehm, laut gelb. Also ließ ich die Stei­ne wie­der zu und versank.

Stil­le.

Ich war jetzt in Ita­li­en. Irgend­wo zwi­schen Urlaub und daheim. Immer­hin das erkann­te ich an der Spra­che. Und sonst? Kei­ne Ahnung. 

Mei­ne Keh­le fühl­te sich an, als hät­te ich seit Mona­ten nichts mehr getrun­ken. Alles war tro­cken, voll­kom­men aus­ge­trock­net. Mei­ne Zun­ge papp­te am Gau­men. Ich woll­te die Augen öff­nen, aber es ging nicht. Irgend­et­was kleb­te. Ich pro­bier­te es wie­der und wie­der, doch nichts geschah. Ich woll­te mit der Hand nach­hel­fen, aber kei­ner mei­ner Fin­ger ließ sich bewe­gen. Ich bekam Panik. Was war hier los?

Ich begann zu schluch­zen und muss­te tie­fer Luft holen, um genug Sau­er­stoff zu bekom­men. Und erstarr­te mit­ten im Ein­at­men, als ich merk­te, wie weh es tat. Mein gan­zer Brust­korb schmerz­te. Vor Schreck sog ich noch mehr Luft ein, schrie. End­lich lie­ßen sich mei­ne Lider öff­nen. Men­schen stan­den um mich her­um, tuschel­ten. Nach ein paar Minu­ten konn­te ich sogar Gesich­ter erken­nen, auch ein Fens­ter links von mir und ein Nacht­käst­chen. Es war leer. 

Eine Frau frag­te den Mann neben mei­nem Bett etwas. Er trug einen wei­ßen Kit­tel. Die Frau einen hell­blau­en Kasak. Ich ärger­te mich, dass ich es nicht frü­her ver­stan­den hat­te. Wo wach­te man denn schon auf, wenn man nicht wuss­te, wo man war? Dabei hass­te ich Kran­ken­häu­ser. 

»Mama!? Lil­li?!« Ruck­ar­tig ver­such­te ich mich auf­zu­set­zen, um einen bes­se­ren Über­blick zu haben. Da stand noch ein Bett neben mei­nem, irgend­wo muss­ten sie schließ­lich sein. Wahr­schein­lich ging es ihnen schon längst wie­der gut und sie waren -

Der Mann im Kit­tel schau­te mit­lei­dig. 

Die Frau neben ihm schüt­tel­te bedau­ernd den Kopf. Das Bett war leer.

Doro­thea Kai­ser, 1991 in dem wei­test­ge­hend unbe­kann­ten Städt­chen Min­den gebo­ren, stu­diert Thea­ter- und Medi­en­wis­sen­schaf­ten und Ame­ri­ka­nis­tik in Erlan­gen, arbei­tet neben­her als Maß­schnei­de­rin in Nürn­berg und als frei­be­ruf­li­che Kos­tüm­bild­ne­rin deutsch­land­weit. Als Aus­gleich zu wis­sen­schaft­li­chen Tex­ten und Näh­ar­bei­ten wid­met sie sich in ihren frei­en Minu­ten dem Schau­spiel und dem lite­ra­ri­schen Schrei­ben, dabei ver­sucht sie sich an Kurz­ge­schich­ten, Gedich­ten, Thea­ter­stü­cken und Song­tex­ten. Ihr Schrei­ben bezeich­net sie als expe­ri­men­tell, rhyth­misch und sub­til selbstironisch.