„… dann ist Freund*innenschaft noch die größtmögliche Utopie, die denkbar ist“

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© Dirk Skiba

Die Schriftstellerin Lisa Krusche im Gespräch

von Julia Schmidt

Im April 2021 erschien Lisa Kru­sches Roman Unse­re anar­chis­ti­schen Her­zen. Die bei­den Prot­ago­nis­tin­nen, Gwen und Charles, ler­nen sich zufäl­lig im Hil­des­hei­mer Klein­stadt­am­bi­en­te ken­nen und schlie­ßen schnell eine enge Freund­schaft, die ihnen hilft, den Wid­rig­kei­ten ihres Lebens zu trot­zen. Schau­ins­blau hat Lisa Kru­sche in einem nach­mit­täg­li­chen Zoom-Mee­ting getrof­fen. Ein Gespräch über Kios­ke, Okto­pus­se und die Wich­tig­keit bedin­gungs­lo­ser Freund*innenschaft in einer Welt, in der sich Sicher­hei­ten auf­lö­sen wie Zucker.

schau­ins­blau: Gwen und Charles kom­men bei­de aus dys­funk­tio­na­len Fami­li­en und fin­den dort kei­nen Halt. Woher neh­men bei­de Figu­ren die­se men­ta­le Stär­ke, die sie zu mit­un­ter sehr erwach­se­nem Ver­hal­ten und stre­cken­wei­se heroi­schen Taten befähigt?

Lisa Kru­sche: Span­nen­de Fra­ge eigent­lich… Es wird ja natür­lich etwas mit ihren Per­sön­lich­keits­struk­tu­ren zu tun haben, dass sie in die­ser Art und Wei­se dar­auf reagie­ren. Da müss­te ich jetzt noch­mal psy­cho­lo­gi­sche Nach­for­schun­gen bei mei­nen Figu­ren anstel­len. Bei Charles habe ich das Gefühl, dass sie ganz viel über Humor und über Fan­ta­sie macht, das dient ihr als Ven­til und sie schafft sich dadurch Gegen­or­te. Auch dadurch, dass sie so eine enge Bezie­hung zu ihrem Pony und ihrem Stoff­tier [Anm. d. Red.: ein Okto­pus] pflegt, schafft sie sich eige­ne Räu­me, die ja auch Gegen­räu­me sind zu ihrer Fami­lie. Und sie ist ja auch ein­fach trot­zig und laut und gibt das ja auch wie­der zurück, viel­leicht nicht alles, aber eini­ges gibt sie wie­der zurück, und man­ches kann sie ja erst zulas­sen, als sie auf Gwen trifft. Und dann glau­be ich, dass spä­ter die­se Freund*innenschaft eine wich­ti­ge Rol­le dabei spielt, die­se Fami­li­en­si­tua­ti­on aus­zu­hal­ten und dar­an nicht zugrun­de zu gehen, weil man eben auf die­se Wei­se einen ande­ren Halt findet.

schau­ins­blau: Der Kiosk ist Dreh- und Angel­punkt im Roman – er dient Gwen als Über­gangs­ort zwi­schen ihren Dop­pel­le­ben, Charles stran­det auf ihren Streif­zü­gen durch die Klein­stadt auch irgend­wann dort und so ler­nen sich die bei­den Prot­ago­nis­tin­nen schließ­lich ken­nen. War­um gera­de der Kiosk?

Lisa Kru­sche: Ich habe so eine kras­se Fas­zi­na­ti­on für Kios­ke. Ich fin­de, das sind mys­ti­sche und coo­le Orte, die ein Eigen­le­ben haben. Sie sind ästhe­tisch total inter­es­sant – sie haben ja oft die­ses Knal­li­ge, Über­zo­ge­ne, und Neon­leucht­schil­der als Wer­bung. Dann allein schon fin­de ich oft Kiosk­schau­fens­ter sehr span­nend, da sind ja immer die unter­schied­lichs­ten Sachen drin, teil­wei­se schon total aus­geb­li­chen. Es sind Orte, die in ganz vie­len ver­schie­de­nen Leben und im All­tag von unter­schied­lichs­ten Men­schen eine Rol­le spie­len. Es gibt Leu­te, die dahin gehen, um sich die Zei­tung zu kau­fen, um den Lot­to­schein abzu­ge­ben, um die Post abzu­ge­ben, um sich Alko­hol zu holen, um einen Schnack zu machen… Es kommt ja auch dar­auf an, was man für Kios­ke hat – wenn man Spät­is hat, wo man sit­zen kann, drin­nen oder drau­ßen, dann ist das ja auch so ein rich­ti­ger Treff­punkt. Mich fas­zi­nie­ren die­se Orte total. Ich bin ja in Nie­der­sach­sen auf­ge­wach­sen, da gibt es vie­le Kios­ke, die haben auch in mei­nem Leben immer eine Rol­le gespielt. Ich bin dann immer mit ein biss­chen Taschen­geld in der Faust hin… Und sich dann die­se Süßig­kei­ten gön­nen… Das war immer so ein High­light, wenn man sich dann dort was für zehn Pfen­nig holen konnte.

schau­ins­blau: Es tref­fen dort eben auch total vie­le unter­schied­li­che Leu­te auf­ein­an­der, die sich sonst nicht tref­fen wür­den. Ein het­e­ro­to­pi­scher Ort vielleicht?

Lisa Kru­sche: Ja, das stimmt. Für Gwen zum Bei­spiel ist das ja wirk­lich eine Het­e­ro­to­pie, also ein Ort, an den sie geht, wenn sie in einer Kri­se ist.

schau­ins­blau:  Ande­re, „typi­sche­re“ Auf­ent­halts­or­te für jun­ge Leu­te wie Schu­le oder Sport- und Frei­zeit­ein­rich­tun­gen spie­len kei­ne Rol­le. War­um? Spie­geln sie ein heut­zu­ta­ge bereits über­hol­tes Lebens­mo­dell wider?

Lisa Kru­sche: Es gab einen Ent­wurf, wo Charles in der Schu­le war, die Sze­ne habe ich aber gestri­chen. Ich fand das irgend­wie nicht so wich­tig und moch­te Schu­le auch nie, viel­leicht ist das auch ein Grund. Ich fin­de, das sind wich­ti­ge Orte, wo so viel ent­schie­den wird – Bil­dung ist ja auch ein Pri­vi­leg – aber ich fand mei­ne Schul­zeit… ich hab da echt viel ein­fach abge­ses­sen. Das muss jetzt nicht in eine Schul­kri­tik aus­ar­ten, aber ich hät­te mir da ganz ande­re Model­le und ganz ande­ren Unter­richt gewünscht, glau­be ich. Aber das woll­te ich im Roman nicht so thematisieren.

schau­ins­blau: Gwen ist eine sehr sen­si­ble und künst­le­risch ver­an­lag­te Per­son und gleich­zei­tig sehr abge­brüht und schwer greif­bar. Tra­gen die­se Gegen­sät­ze dazu bei, dass sie die­se wun­der­schö­nen und sehr tref­fen­den Text­frag­men­te schafft, die sie ver­mut­lich auf social media pos­tet? Wür­dest du Gwen als (zukünf­ti­ge) Schrift­stel­le­rin bezeichnen?

Lisa Kru­sche: Ja… Sie scheint ja ein Inter­es­se dar­an zu haben, ihre Gefühls­welt schrift­lich ein­zu­fan­gen und sich dar­in aus­zu­drü­cken. Man weiß es nicht genau, viel­leicht wird sie mal Schrift­stel­le­rin. Ich habe schon das Gefühl, dass es ein Sym­ptom unse­rer Zeit ist, dass ja wahn­sin­nig vie­le Leu­te über ihre Emp­fin­dun­gen und Erleb­nis­se online auch schrei­ben und die­se Platt­form nutzen.

schau­ins­blau:  Beein­flus­sen social media und das Flüch­ti­ger-Wer­den der Welt dei­ner Mei­nung nach das (lite­ra­ri­sche) Schreiben?

Lisa Kru­sche: Ja, auf jeden Fall. Es kommt natür­lich dar­auf an, wor­über man schreibt. Joshua Groß hat neu­lich in einer Dis­kus­si­on gesagt, er denkt ganz oft dar­über nach, war­um er aus­ge­rech­net Bücher schreibt und nicht ande­re Platt­for­men wählt, um sei­ne Tex­te zu ver­öf­fent­li­chen. Ich fin­de, das ist zum Bei­spiel eine Fra­ge, die sich stellt, oder stel­len kann. Es gibt so vie­le Mög­lich­kei­ten, Tex­te zu ver­öf­fent­li­chen – war­um wählt man gera­de die­ses Medi­um Buch? Wenn man sich mit der Gegen­wart beschäf­tigt, kommt man ja gar nicht um die­se Sachen her­um. Und dann fin­de ich es aus ästhe­ti­scher Sicht span­nend, wel­che Mög­lich­kei­ten sich dadurch bie­ten, zum Bei­spiel die­se Art und Wei­se, wie Gwen das macht, dass sie twit­tert und dass man das [als Autorin] im Text nutzt – das fand ich total span­nend, damit umzugehen.

schau­ins­blau:  Sie schreibt sehr poe­tisch und gleich­zei­tig sehr prä­zi­se und aus­sa­ge­kräf­tig. Ist das viel­leicht auch eine Reak­ti­on dar­auf, dass die Welt um sie her­um so wenig Ver­läss­li­ches bietet?

Lisa Kru­sche: Hm… weiß nicht, fin­de ich aber eine span­nen­de Beob­ach­tung. Ja, ich glau­be schon, dass man das so lesen kann. Es kommt mir aber mehr wie eine Beob­ach­tung von dir vor.

schau­ins­blau: Kann man sol­che Ten­den­zen wie das Flüch­ti­ge und wenig Kon­stan­te in der Lebens­welt der bei­den Prot­ago­nis­tin­nen auch mit der sich durch den Roman zie­hen­den Zucker-The­ma­tik in Ver­bin­dung brin­gen – Zucker ist süß, löst sich leicht auf, nicht von Dau­er, bewirkt einen kur­zen Adre­na­lin­schub und ein dar­auf­fol­gen­des Tief – ?

Lisa Kru­sche: Kön­nen wir das so ste­hen las­sen? Ich fin­de das rich­tig schön zusammengefasst.

schau­ins­blau:  Dann las­sen wir das so ste­hen. Was haben die Was­ser­me­lo­nen, die beson­ders oft im Roman auf­tau­chen, damit zu tun?

Lisa Kru­sche: Da fließt Ver­schie­de­nes zusam­men. Zum einen gehö­ren sie zu die­sem Som­mer-Vibe. Das ist ja auch so ein Kli­schee-Ding, die­se Was­ser­me­lo­nen… Und ich lie­be ein­fach Was­ser­me­lo­nen­kau­gum­mis! Es gibt so win­zig klei­ne, die sehen aus wie Minia­tur­was­ser­me­lo­nen. Wenn man die auf­schnei­det, oder auf­beißt, ist so rosa­far­be­ner Zucker innen­drin. Gleich­zei­tig ist das ja auch so ein kras­ser Fake, ein über­trie­be­nes Ersatz­pro­dukt, die­se Was­ser­me­lo­nen­si­mu­la­ti­on… so kam das eigent­lich. Man­che haben das als Refe­renz auf Richard Brau­tig­an gele­sen, auf das Buch In Was­ser­me­lo­nen­zu­cker, das moch­te ich auch total ger­ne. Aber die Was­ser­me­lo­nen waren schon, bevor ich die­ses Buch kann­te, bei mir.

schau­ins­blau: In einem ande­ren Inter­view hast du über den Okto­pus gespro­chen. Dort steht der Okto­pus als Sinn­bild für Plu­ra­li­tät im Den­ken und einem Sich-Öff­nen gegen­über Dis­kur­sen [vgl. Insta­gram-Zitat: https://www.instagram.com/p/CO8GupdrKi3/?utm_medium=copy_link] – Kannst du das etwas näher aus­füh­ren? Wel­che Dis­kur­se sind das? Gehen Jugend­li­che heut­zu­ta­ge bewuss­ter mit sol­chen Her­aus­for­de­run­gen um als vor 10 oder 15 Jahren?

Lisa Kru­sche: Ich habe das Gefühl, dass die Gegen­wart, in der wir leben, mit die­sen mul­ti­plen Kri­sen, einen wirk­lich her­aus­for­dert im Den­ken, und immer wie­der und immer mehr her­aus­for­dert, und dass man eigent­lich in ganz vie­le ver­schie­de­ne Rich­tun­gen den­ken muss. Zum Bei­spiel so was wie Anti­ras­sis­mus, Femi­nis­mus, sol­che Sachen. Inter­sek­tio­na­ler Femi­nis­mus ist ja bei­spiels­wei­se so ange­legt, dass er eben in ganz vie­le unter­schied­li­che Rich­tun­gen denkt anstatt nur in eine Rich­tung. Ich hab das Gefühl, dass sich manch­mal Leu­te aus der Affä­re zie­hen wol­len und dann gibt es so back­lashs, wo geschrie­ben wird: „Stopp, jetzt ist es genug Eman­zi­pa­ti­on, jetzt müs­sen wir erst mal eine Pau­se machen, wir dür­fen jetzt – was weiß ich – sagen wir mal, die alten wei­ßen Män­ner nicht so über­for­dern, es gibt doch jetzt schon die Ehe für alle…“, oder so. So hab ich das, glau­be ich, gemeint. Und auch mit dem Kli­ma­wan­del und der Umwelt­ver­schmut­zung, da sind so vie­le Sachen, und ich fin­de, da passt der Okto­pus wirk­lich, man braucht irgend­wie ein acht­ar­mi­ges Den­ken. Bei Don­na Hara­way taucht er ja auch auf, der Okto­pus, die hat ja die­se Figur der Ten­ta­ku­lä­ren, und dass man sich eigent­lich ja auf ver­schie­dens­te Arten und Wei­sen ver­bin­det, mit ande­ren Geschich­ten und ande­ren Wesen. Ich fin­de, da passt der Okto­pus auch als Bild. Es sind total span­nen­de Tie­re, auch ästhe­tisch, dass sie die­se Haut haben, die ver­schie­de­ne Far­ben und Mus­ter und auch die Umge­bung abbil­den kann. Ich habe außer­dem ein sehr schö­nes Buch gele­sen, Ren­dez­vous mit einem Okto­pus. Die Autorin hat immer in einem Aqua­ri­um abge­han­gen und hat sich dann auch mit einem Okto­pus ange­freun­det und ganz viel dar­über geschrie­ben. Das sind ja echt auch so wahn­sin­nig klu­ge Wesen, die auch in der Lage sind, Bezie­hun­gen zu Men­schen auf­zu­bau­en, arten­über­grei­fen­de Bezie­hun­gen, und man weiß eigent­lich noch so wenig über die. Das fin­de ich ein­fach irgend­wie span­nend – in vie­ler­lei Hinsicht.

schau­ins­blau: Denkst du, dass Tie­re die bes­se­ren Freun­de sind?

Lisa Kru­sche: Ob bes­ser, weiß ich nicht. Ich habe ja sel­ber einen Hund… Es sind eben ande­re Bezie­hun­gen, man kom­mu­ni­ziert ja auch anders mit­ein­an­der. Der Hund ver­steht mich ja schon in gewis­ser Wei­se, wenn ich mit ihm spre­che, da geht ja auch viel über die Ton­la­ge, aber man hat ein­fach ande­re Arten von Kom­mu­ni­ka­ti­on mit­ein­an­der. Aber ich hab auch wahn­sin­nig tol­le mensch­li­che Freund*innen. Ich wür­de sagen, es sind ein­fach ande­re Beziehungen.

schau­ins­blau: Gwen und Charles ver­bin­det eine inni­ge Freund­schaft und sie wer­den sehr schnell zu Kom­pli­zin­nen. An man­chen Stel­len wird ange­deu­tet, dass sich zwi­schen den bei­den womög­lich eine roman­ti­sche Bezie­hung ent­wi­ckeln könn­te. Bleibt das bewusst vage? Sind der­ar­ti­ge strik­te Ein­ord­nun­gen zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen sowie­so überholt?

Lisa Kru­sche: Ich glau­be, ich habe eigent­lich ein Inter­es­se dar­an, die­se Kate­go­rien auf­zu­lö­sen. Es gibt ja noch rela­tiv star­re Vor­stel­lungs­bil­der davon, was eine Freund­schafts­be­zie­hung ist und was eine roman­ti­sche Bezie­hung ist. Ganz oft wird ja das Wort Lie­be syn­onym ver­wen­det für eine hete­ro­nor­ma­ti­ve Bezie­hung, oder zumin­dest für eine roman­ti­sche Bezie­hung, was ich voll weird fin­de, weil das ja so ein Begriff ist, den man viel erwei­ter­ter den­ken kann. Des­we­gen wür­de ich ein­fach sagen, dass die bei­den ein sehr zärt­li­ches Ver­hält­nis zuein­an­der haben. Sie lie­ben ein­an­der, aber eben in so einem erwei­ter­ten Sinne.

schau­ins­blau: Ist bedin­gungs­lo­se Freund*innenschaft die ein­zi­ge Mög­lich­keit, der Welt die Stirn zu bieten?

Lisa Kru­sche: Fin­de ich eine kom­pli­zier­te Fra­ge. Ich per­sön­lich erle­be das bei mir schon oft so, dass ich eher pes­si­mis­tisch bin und jetzt nicht die Hoff­nung habe, dass noch die gro­ße Revo­lu­ti­on kommt, die die Ver­hält­nis­se für alle Lebe­we­sen auf der Welt zum Bes­se­ren, oder zum Guten wen­det… und ich glau­be, dann ist Freund*innenschaft noch die größt­mög­li­che Uto­pie, die denk­bar ist.

Lisa Kru­sche lebt als freie Schrift­stel­le­rin in Braun­schweig. Sie erhielt ver­schie­de­ne Aus­zeich­nun­gen und Prei­se, dar­un­ter den Edit Radio Essay­preis, den Deutsch­land­funk-Preis bei den 44.Tagen der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur und das Auf­ent­halts­sti­pen­di­um des Ber­li­ner Senats im Lite­ra­ri­schen Col­lo­qui­um Ber­lin. 2021 erschien ihr Debüt­ro­man “Unse­re anar­chis­ti­schen Her­zen” bei S.Fischer und “Das Uni­ver­sum ist ver­dammt groß und super mys­tisch” bei Beltz.