Die Ästhetik des Essens in Eckhart Nickels Hysteria und Richard Fleischers Soylent Green und deren ethische Dimension.
von Patricia Thoma
Essen stellt in der Kunst seit geraumer Zeit ein gängiges Motiv dar.[1] Lebensmittel und Speisen sowie das Einverleiben dieser rückt wiederholt ins Zentrum des Interesses Kunstschaffender. Eat-Art-Künstler*innen ästhetisieren Essen in solch einer Weise, dass sich diese Alltäglichkeit in ein Ereignis verwandelt, wobei nicht unweigerlich im Vordergrund steht, dieses angenehm oder schön zu inszenieren. Dem Essen, also dem Produzieren, Zubereiten und Konsumieren von Lebensmitteln, ist eine weltverändernde, ethische Dimension inhärent, die in zeitgenössischer Kunst wahrgenommen und genutzt wird. Als vermeintlich banale Alltagshandlung ist Essen von enormer Wichtigkeit, da es omnipräsent und lebenserhaltend, demnach obligatorisch ist.
Im Anthropozän – dem Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der bedeutendsten Faktoren in Bezug auf Umweltprozesse der Erde wurde – steht eines beständig im Zentrum des Interesses: Die Natur und deren Beeinflussung durch den Menschen. Besonders im Kontext der Ernährung wird der Einfluss der Menschheit auf natürliche Ressourcen und somit auf die Erde und deren Klima stets neu verhandelt. Essen wird zur politischen Angelegenheit. Ökonomische und ökologische sowie soziale Dimensionen des Essens treten mit dessen Ästhetisierung in den Vordergrund, wodurch Esseneine ethische Kontextualisierung erfährt.
Varianten der Ästhetisierung von Essen in der Kunst sind in Eckhart Nickels Roman Hysteria (2018) und schon in Richard Fleischers Film Soylent Green (1973) zu finden. Sowohl Hysteria als auch Soylent Green sind in einer dystopischen Diegese situiert, in der des Menschen Einfluss auf die Umwelt in der innerfiktionalen Vergangenheit unzuträglich war und der fortgeschrittene Klimawandel politische Instanzen folglich dahingehend drängte, Kontrollmaßnahmen bezüglich der Ernährung und der Produktion von Lebensmitteln zu ergreifen. In Hysteria werden gesetzliche Auflagen durchgesetzt, die die Bevölkerung dazu zwingen, sich vegetarisch und von Bio-Produkten zu ernähren. Der immense Bedarf an organisch angebauten Lebensmitteln, den dieser Lebensstil fordert, kann allerdings nicht gedeckt werden, vor allem da Natur- und Wettereinflüsse die Produktion unmöglich gemacht haben. Die Ressourcen sind erschöpft und ein „Kulinarisches Institut“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, Nahrungsmittel artifiziell zu züchten und zu vertreiben. Auch in Soylent Green vertreibt ein Konzern Nahrung an die Bevölkerung von New York, die in Form verschiedenfarbiger quadratischer Kekse – Soylent genannt – in kleinen Mengen rationiert an die Menschheit distribuiert wird. Natürliche Lebensmittel oder auch eine Variation an Mahlzeiten sind zu solch einer Rarität geworden, dass die gemeine Bevölkerung sie nur noch in ihrer Erinnerung kennt. In beiden Werken kommt es schließlich zur Eskalation und potenziellen Bedrohung für die bestehende Ordnung, da die zur Verfügung stehende Nahrung nicht ist, was sie zu sein scheint. Die Protagonisten von Hysteria und Soylent Green – Bergheim und Detective Thorn – sind jeweils im Begriff, dies zu entlarven.
Schlüsselszenen dieser Dystopien sind jene, in denen der Fokus auf Essen gerichtet ist bzw. die Ästhetisierung, gar Überästhetisierung von Essen zum Ausdruck anschaulicher Verhandlung ökologischer Aspekte wird. Je nach ästhetischer Darstellung wird Nahrung und Essverhalten zum Indikator für Zustände der Natur und die Einordnung des Menschen in diese. Essen kann als eine Art sozialer Marker und Ausdruck von Wertvorstellungen wahrgenommen werden. Essen kann Wohlstand und Fülle oder Gegenteiliges, also Notstand und Mangel, symbolisieren und eine Art Nostalgieträger in dystopischem Umfeld darstellen. Essen kann Appetit oder Ekel auslösen, je nach ästhetischer sowie ethischer Kontextualisierung. Anhand dieser diversen Interpretationen von Essen in seiner jeweiligen Darstellungsweise in Hysteria und Soylent Green soll evident werden, wie essenziell eine Ästhetik des Essens in Bezug auf dessen ethischen Diskurs ist.
Die Ästhetik des Essens als Spiegel der Welt
„Ich rieche Wohlgeschmack. Zu Tisch!“[2], verkündet in Hysteria der Professor des Kulinarischen Instituts. Damit wird der Beginn eines Festmahls von besonderer Distinguiertheit und Raffinesse eingeleitet, wobei Essen in hohem Maße ästhetisiert wird. Sowohl Nahrung als auch Essprozess sowie Atmosphäre und Aufmachung des Speisesaals und der Speisekarte wirken in dieser Szene auffallend pompös und theatral inszeniert. Allein der durch Kerzenschein erleuchtete Saal, in dem Bachs erste Violinsonate zu vernehmen ist und eine vornehm festlich gedeckte Tafel inmitten des Raums platziert wurde, lässt das Ausmaß an Dekadenz der Speisen vermuten. Die Speisekarten sind aus Papier gefertigt, das erst beim Erhitzen das Menü des Abends preisgibt. Es wird zeremonielles Räuchergut entzündet, „um die Sinne zu animieren“.[3] Und sämtliche Speisen und Getränke folgen einem farblichen Prinzip: Sie sind weiß. Im Laufe des Abends werden Lebensmittel serviert, die zu den wertvollsten und exklusivsten der Welt erklärt werden, wovon die Teilnehmer*innen des Diners merklich verzückt sind. Es scheint, als wäre die visuelle bzw. geistige Stimulierung, durch die bis ins kleinste Detail dekorierten und dramaturgisch in Szene gesetzten Speisen, beinahe wichtiger als deren gustatorische Qualität. Es findet eine Art Vergeistigung des Essens und des Geschmacks statt, da sich das Diner primär aus intellektueller Leistung formt und somit gewissermaßen zur Kunst erhoben wird. Essen scheint im Zuge dieses Festmahls keine bedürfnisorientierte, nährende Funktion einzunehmen, sondern wird zum ästhetisch stilisierten Gegenstand erklärt, was einer Demonstration von Wohlstand gleichkommt, die elitär konnotiert ist. Ursprünglich ist ästhetisiertes Essen, das Schöne und der richtige Geschmack einer Oberschicht vorbehalten, die es sich leisten kann, den Fokus vom Physischen auf das Geistige respektive die Ästhetik zu richten. Einer Unter- und Mittelschicht steht dies nicht bzw. nur begrenzt zu.[4] Essen – was und wie gegessen wird – fungiert dementsprechend als sozialer Marker und Indikator für die Fülle an Ressourcen, die in Hysteria mittels artifizieller Herstellung von Nahrungsmitteln generiert wird.
Gegenteiliges vermittelt die Festmahlszene in Soylent Green. Detective Thorn und sein betagter Freund Sol Roth kredenzen sich ein 3‑Gänge-Menü, das in keinerlei Verhältnis zu dem Mahl steht, das Bergheim im Kulinarischen Institut zu sich nimmt, und doch ist es für Thorn und Sol ein ebenso feines Festmahl. Sie befinden sich in der spärlich eingerichteten heimischen Küche, in der Sol das Mahl zubereitet, und dinieren an einem kleinen Tisch, der mit einem zerknitterten, schlichten Tischtuch und Plastikgeschirr gedeckt ist. Die beiden genießen die raren Speisen sichtlich, beißen beherzt und lautstark in ungewürzte Salatblätter und die am Hemd polierten Äpfel, erfreuen sich am schlichten Eintopf wie am Bourbon, während sie sich wiederholt vielsagende Blicke zuwerfen und mehrfach in freudiges Gelächter ausbrechen. Die knappe Szene enthält keine Dialoge, keine Ablenkung vom Wesentlichen – dem Essen –, womit der Fokus auf das Mahl selbst und die Art und Weise gerichtet bleibt, wie Thorn und Sol speisen. Mozarts Kegelstatt-Trioertönt als Off-Musik und dominiert den Ton der Szene, während Thorn und Sol lediglich über Mimik, Gestik und gelegentliche Atemgeräusche und Lacher kommunizieren.[5] Die Musik verleiht der Szene eine betont leichte und anmutige Konnotation, während die lauten Essgeräusche, die Interjektionen, das Aufstoßen und Lachen der Protagonisten diese Stimmung wieder auflösen. Dieser ästhetische Bruch repräsentiert die Spannung, die sich in dieser Szene zwischen der Wahrnehmung der Protagonisten und der der Zuschauer*innen in Bezug auf das präsentierte Essen konstituiert. Das Mahl, das die beiden so festlich wahrnehmen, hat auf die Zuschauenden nicht dieselbe Wirkung, vor allem da es auf so wenig vornehme Art und Weise kredenzt und verspeist wird.
Die überschwängliche Freude der Protagonisten stimmt nicht mit der ästhetischen Darstellung des Essens selbst überein, das vor dem Hintergrund herkömmlicher Ernährung kärglich und trostlos scheint. Darin verbirgt sich der Umstand, dass diese Mahlzeit von Thorn und Sol deshalb als so delikat wahrgenommen wird, da ihnen der Zugang zu Nahrungsmitteln wie diesen normalerweise verwehrt ist. Sie genießen ihr persönliches Festmahl euphorisch, wohl um den Umstand wissend, dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit ein einmaliges, flüchtiges Erlebnis sein wird.
Im Gegensatz zum Festmahl in Hysteria symbolisiert die Überästhetisierung des Essens hier den Mangel und die Abwesenheit von Wohlstand. Natürliche Ressourcen sind in Soylent Green restlos erschöpft, was die Essenssituation über ästhetische Mittel indiziert. In welchem Ausmaß und auf welche Kosten Fülle oder Knappheit an natürlichen Ressourcen herrscht und wie es um die Natur in Hysteria und Soylent Green letztendlich tatsächlich bestellt ist, zeigt der Ausgang beider Diegesen an späterer Stelle.
Essensetikette als ästhetisches Mittel
Essensetikette bzw. die Manier, in der gespeist wird, ist von besonderer Gewichtung, wenn es um die ästhetische Darstellung von Essen und dessen Symbolik geht. Durch eine Regelhaftigkeit und Sozialisierung bezüglich des Essvorgangs gestaltet sich die Mahlzeit „stilisierter, ästhetischer, überindividuell regulierter“[6] Der ästhetische Wert des Essens steigt mit höheren, sozial erzeugten Werten.[7] In Soylent Green ist die Nahrungsaufnahme für die Bevölkerung im Zuge der ausschließlichen Ernährung von Soylent zu etwas Beiläufigem geworden. Soylent, das massenweise in knalligen, unnatürlich wirkenden Farben auf Märkten angeboten wird und lieblos in schlichte Plastiktüten verpackt ist, wird ausnahmslos nebensächlich und ohne eine Art von Essensetikette verspeist. Essen steht in keiner Weise im Vordergrund oder wird gar ästhetisch präsentiert. Zudem spielt der soziale Aspekt der Mahlzeit keinerlei Rolle. Der Verzehr von Soylent ist eine schlichte Notwendigkeit, der weder zu Zwecken des Genusses noch der Geselligkeit vonstattengeht. Dies wird im Kontrast zu Thorns und Sols genussvoll zelebriertem Festmahl umso deutlicher.
Im Gegensatz dazu wird jegliches Essen in Hysteria auf hyperbolische Weise ästhetisiert und stilisiert. Essensetikette bedeutet in Hysteria Überfluss, Überästhetisierung und Tabus in vielerlei Hinsicht. Ethisch gut zu essen und „spurenlos“ zu leben, ist die oberste Prämisse und Reglement der Regierung. Eckhart Nickel beschreibt mit Hysteria eine „politisch-moralische Grenzüberschreitung“, die auf der Übersteigerung des substanziell Guten, der ökologisch optimierten Gesellschaft basiert: „Aus dem Geist der Zurück-zur-Natur-Bewegung hat sich eine Diktatur des Künstlichen entwickelt.“[8] Aus naturorientierten Ansätzen wird überspitzter Bio-Wahn und Ästhetizismus der Nahrung. In der Ästhetisierung des Essens „wird das Essen in seiner ursprünglichen, wesentlichen gemeinschaftlichen Funktion und Bedeutung [negiert], um es derart zu einer gesellschaftlichen Zeremonie zu stilisieren, zu einer Bekräftigung ethischen Verhaltens und ästhetischen Raffinements.“[9] Essen wird kaum als pragmatische, funktionale Praxis thematisiert, die dem Stillen des Hungers dient, sondern primär als soziales und ästhetisches Moment. Aus der Stilisierung des Essens mit dem Fokus auf Form und Manier resultiert die Verleugnung der grob materialistischen Wirklichkeit des Ess- und Trinkvorgangs und dessen, was sich einverleibt wird. Essensetikette täuscht über die Realität hinweg.[10] Welche Umstände in Hysteria und Soylent Green unterschlagen werden sollen bzw. auf welche verborgenen Hintergründe ästhetisiertes Essen viel eher aufmerksam macht, kommt schließlich aufgrund der detektivischen Arbeit der Protagonisten ans Licht.
Wenn Appetit in Ekel umschlägt – Die Ästhetisierung von Essen als Hinwegtäuschen über die Realität
Bergheim und Thorn – letzterer mit Hilfe seines Freundes Sol, der ihn in die Welt einstiger Kulinarik einführt – machen Entdeckungen, die sich ihnen erst im Zuge der Ästhetisierung der beschriebenen Festmahl-Szenen bzw. im Kontrast zur herkömmlichen Ernährungsweise erschließen. Sol Roth und Bergheim fungieren hierbei als Erinnerungsträger für eine vergangene Welt, in der natürliche Ressourcen zu großen Teilen ausreichend zur Disposition standen, um die Bevölkerung zu ernähren, und Nahrung bislang nicht synthetisch generiert werden musste. Essen dient ihnen hierbei als sinnliches Anschauungsmaterial. Angetrieben von Nostalgie stellen Detective Thorn und „Fruchtdetektiv“[11] Bergheim Nachforschungen an und erhalten erschreckende Informationen in Bezug auf die Nahrungsmittel, die der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden.
Sol Roth – der Thorn gegenüber wiederholt von besseren Zeiten im Kontext von Natur und Nahrung referiert – sucht einen Ausweg aus der dystopischen Gesellschaft. Er findet ihn im Freitod und besucht hierfür eine von der Regierung angelegte Institution, in der man sich auf Wunsch einschläfern lassen kann. Thorn, der zu spät kommt, um Sols Tod noch verhindern zu können, wohnt dessen Sterben hinter einer Glasscheibe bei und kommuniziert mit diesem durch eine Sprechanlage. Dabei bittet Sol Thorn, dem Abtransport seiner Leiche zu folgen, wohl um den Umstand wissend, was mit seinem Körper geschehen bzw. was aus diesem gefertigt werden wird. So erfährt Thorn, dass Soylent nicht aus Plankton gewonnen wird, wie von offizieller Seite proklamiert. Soylent wird aus verstorbenen Menschen wie Sol gefertigt. Die Bevölkerung ernährt sich also von Menschenfleisch, ohne es zu wissen: „It’s people. Soylent Green is made out of people. […] Soylent Green is people“,[12] verkündet Thorn in der letzten Szene des Films, um seine Mitmenschen zu warnen. Der der Bevölkerung aufgezwungene Tabubruch in Form von unfreiwilligem Kannibalismus pervertiert die gängige Nahrungsaufnahme in Soylent Green und gipfelt in Ekel.
Bergheim hingegen ist von Anfang an klar, dass „[m]it den Himbeeren […] etwas nicht [stimmte].“[13] Bereits zu Beginn des Romans macht Bergheim das unnatürlich makellose Aussehen der Himbeeren auf dem Biomarkt stutzig. Bestrebt, das Mysterium der seltsam anmutenden Himbeeren aufzuklären, sucht Bergheim Antworten im Kulinarischen Institut. Und tatsächlich ist das „Meisterwerk“, das vermeintlich „[a]bsolute Vollkommenheit und absolute Natürlichkeit friedlich vereint“,[14] in Wahrheit „künstlich[e] Mimikry“[15] und stellt sich als äußerst fehlbar heraus. Das augenscheinlich Schöne erfährt somit eine Umwertung respektive Umkehrung in dessen Gegenteil – in Ekel. Das überästhetisiert dargestellte, ‚schöne‘ Essen täuscht über den Umstand hinweg, dass es nicht ist, was es zu sein scheint – etwas, das Bergheim durchweg geahnt hat und worüber er genuin irritiert war. Die Konzipierung einer künstlichen Welt respektive die Überhöhung der Welt durch das Ästhetisierte wird hier zur Hypostase des ästhetisch Artifiziellen. Die intendierte Rückkehr zur Natur pervertiert in ihre künstliche Neukreation und Ästhetisierung.[16]
Die Ethik der Ästhetik des Essens
Ein ethisches Moment der ästhetischen Darstellung von Essen ist sowohl der Diegese beider Werke inhärent als auch auf Ebene der Rezipierenden zu finden. Innerhalb der Diegese erleben die Protagonisten Essen in einer Weise, die nicht mit ihrer bisherigen Erfahrung übereinstimmt. Dieser Umstand wird ihnen primär durch die ästhetische Erfahrung des Essens und die damit einhergehende Kontemplation über die ihnen präsentierten Speisen deutlich. Thorns Reflexionsprozess wird aktiviert durch einen Moment der Nostalgie, ausgelöst durch ihm bisher unbekannte natürliche und unbearbeitete Lebensmittel im Kontrast zum verzehrfertigen Soylent, während Bergheim die auffallend künstlichen Speisen zur Kontemplation bewegen. Eine Kontemplation, die die Rezipierenden teilen. Ihnen wird anhand des ästhetischen Erlebens die Schönheit und Fragilität ihrer Lebensrealität vor Augen geführt, was besonders im Abspann von Soylent Green Exemplifikation erfährt. Der Film endet mit einem romantisch-nostalgischen Blick auf unberührte Natur, die im Kontrast zur innerfiktionalen dystopischen Wirklichkeit besonders eindrucksvoll wirkt. Dies ist als deutlicher Appell zu verstehen, dass kontemporäre Verhaltensweisen zum dystopischen Setting des Films führen können, die Katastrophe aber durchaus noch abgewandt werden könnte, indem die gegenwärtige Welt gepflegt und geschützt wird. Was innerhalb der Diegese medial erzeugte Erinnerung darstellt, ist für die Rezipierenden Gegenwart. Damit wird Hoffnung auf den möglichen Erhalt der Natur suggeriert und gleichzeitig mit Nachdruck auf deren dringlichen Schutz beharrt.[17]
Eckhart Nickel geht in Hysteria einen Schritt weiter. Der Schutz der Natur hat hier bereits oberste Priorität. Rein und „spurenlos“ zu Gunsten der Natur zu leben, gipfelt jedoch in deren Neukreation und Pervertierung. Das augenscheinlich Natürliche ist „in Wahrheit lebloser Tand“.[18] Es gilt zwar die Natur zu schützen, dabei aber simultan das rechte Maß zu wahren, d.h. ethisch zu handeln und den Menschen und seine Kreationen nicht über die Natur zu erheben. Es soll vermieden werden, in Hysterie zu verfallen – wie der Titel des Romans suggeriert – und mögliche Trends zu Bio-Wahn, quasikultischen Ernährungsweisen oder Ähnlichem sollen kritisch betrachtet werden.
Darin liegt das ethische Moment der ästhetisierten Darstellung von Essen. Die ausgelöste ästhetische Erfahrung führt nicht nur zu Erkenntnissen auf Seiten der Protagonisten, sondern hinterfragt auch kontemporäre Lebens- und Ernährungsweisen. Betont wird die Importanz ethischer Dimensionen der Nahrungsmittelindustrie und die Reflexion der Gegenwart und Zukunft unseres sprichwörtlichen ‚täglichen Brots‘. Ästhetisiertes Essen in Eckhart Nickels Hysteria und Richard Fleischers Soylent Green erweist sich als äußerst relevant für Protagonisten wie Rezipient*innen und damit für deren Lebensrealität. Ess-Kunst kann demnach also nicht einfach weg.
[1] Vgl. Welter, Judith: „Leben als Mittel zur Kunst? Über das (Auf)Bewahren von Lebensmitteln im Museum.“ In: Ette, Ottmar et al. (Hrsg.): Lebensmittel. Essen und Trinken in den Künsten und Kulturen. Zürich: diaphanes, 2013. S. 207–220. Hier: S. 208.
[2] Nickel, Eckhart: Hysteria. 2. Aufl. München: Piper, 2018. S. 187.
[3] Ebd., S. 205.
[4] Vgl. Kleinspehn, Thomas: Warum sind wir so unersättlich. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987. S. 161 und S. 170.
[5] Vgl. Fleischer, Richard: Soylent Green. Hamburg: Warner Bros. Entertainment, 2003 (1973). DVD. 00:31:52–00:34:00.
[6] Simmel, Georg: „Die Soziologie der Mahlzeit (1910).“ In: Kashiwagi-Wetzel, Kikuko / Meyer, Anne-Rose (Hrsg.): Theorien des Essens. Berlin: Suhrkamp, 2017. S. 69–76. Hier: S. 71.
[7] Vgl. ebd., S. 71ff.
[8] Otte, Carsten: „Vom Terror des spurenlosen Lebens.“ In: Zeit Online. 13.09.2018. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2018–09/eckart-nickel-hysteria-roman/komplettansicht.
[9] Bourdieu, Pierre: „Drei Arten des Sich-Unterscheidens (1979).“ In: Kashiwagi-Wetzel, Kikuko / Meyer, Anne-Rose (Hrsg.): Theorien des Essens. Berlin: Suhrkamp, 2017. S. 298–321. Hier: S. 315.
[10] Vgl. ebd., S. 315f.
[11] Nickel, Hysteria. S. 180.
[12] Fleischer, Soylent Green. 01:29:55–01:30:40.
[13] Nickel, Hysteria. S. 9.
[14] Ebd., S. 186.
[15] Ebd., S. 213.
[16] Vgl. Amend-Söchting, Anne: „Zwischen Ästhetizismus und Öko-Faschismus. ‚Hysteria‘ von Eckart Nickel.“ In: Literaturkritik. Rezensionsforum. Nr. 10, Oktober 2018. https://literaturkritik.de/nickel-hysteria-zwischen-aesthetizismus-und-oeko-faschismus-hysteria-von-eckhart-nickel,24985.html.
[17] Vgl. Tormin, Ulrich: Alptraum Großstadt. Urbane Dystopien in ausgewählten Science Fiction-Filmen. Alfeld: Coppi, 1996. S. 84ff.
[18] Nickel, Hysteria. S. 237.
Patricia Thoma, geboren 1993 in Augsburg, B.A. in Vergleichender Literaturwissenschaft. Absolviert derzeit den Masterstudiengang des Elitenetzwerks Bayern „Ethik der Textkulturen“ in Augsburg. Widmet sich in ihrer Abschlussarbeit aktuell den Funktionsweisen und Möglichkeiten des postpandemischen Netztheaters und dessen ethischem Potenzial.