Jan Koneffke — Die sieben Leben des Felix Kannmacher

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von Vera Podskalsky

Ein Geschich­ten­er­zäh­ler, der, als Teil einer Geschich­te, Geschich­ten erzählt, um zu über­le­ben — das erin­nert doch stark an den all­seits bekann­ten Mythos aus „Tau­send­und­ei­ne Nacht“. Jan Kon­eff­ke ver­wen­det die­sen Mythos in sei­nem neu­en Roman Die sie­ben Leben des Felix Kann­ma­cher (2011) und ver­sieht ihn mit zusätz­li­chen Bedeutungsebenen.

Sein Geschich­ten­er­zäh­ler Felix Kann­ma­cher, ein Cha­rak­ter, der aus Jan Kon­eff­kes frü­he­rem Roman Eine nie ver­ges­se­ne Geschich­te (2008) bekannt ist, ist Teil der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit. Der ehe­ma­li­ge Bar­pia­nist ist aus Nazi-Deutsch­land geflo­hen, nach­dem ihm ein SA-Mann bei einem Sturm auf ein jüdi­sches Restau­rant drei sei­ner Fin­ger zer­trüm­mert hat. Nun muss er mit sei­nen Erzäh­lun­gen die lau­ni­sche Vir­gi­nia, die Toch­ter sei­nes Flucht­hel­fers Vic­tor Mar­cu, der Kann­ma­cher in Rumä­ni­en als „Kin­der­mäd­chen“ eine neue Iden­ti­tät ver­schafft hat, bei Lau­ne hal­ten. Er unter­hält sie mit ver­schie­den­ar­tigs­ten mythi­schen Erzäh­lun­gen, damit sie ihn nicht aus Miss­mut in gefähr­li­che Situa­tio­nen bringt.

Bald bekommt das Erzäh­len ums Über­le­ben aber auch noch eine neue Dimen­si­on: Von Geschich­te zu Geschich­te schei­nen immer mehr Figu­ren aus dem Umfeld Kann­ma­chers zu Figu­ren in sei­nen Erzäh­lun­gen zu wer­den. Der Prot­ago­nist beginnt, das Schick­sal der Men­schen, die ihn umge­ben, und damit auch sein eige­nes Schick­sal so zu ver­än­dern, wie er es gern hät­te. Auch als er längst nicht mehr bei Mar­cu lebt, der ihn unter einem Vor­wand hin­aus­ge­wor­fen hat, weil er eifer­süch­tig auf das gute Ver­hält­nis zwi­schen Toch­ter und „Kin­der­mäd­chen” gewe­sen ist, denkt er sich wei­ter Geschich­ten aus.

Und sein Schick­sal gibt ihm allen Grund, sei­ne eige­ne Lebens­ge­schich­te ver­än­dern zu wol­len: Er lebt in stän­di­ger Angst, von den Natio­nal­so­zia­lis­ten auf­ge­spürt zu wer­den und muss schreck­li­che Ver­ge­hen an sei­nen jüdi­schen Freun­den mit­er­le­ben. Iro­ni­scher­wei­se wird er schließ­lich nicht von den Natio­nal­so­zia­lis­ten gefun­den, son­dern von der neu­en kom­mu­nis­ti­schen Regie­rung in Rumä­ni­en ver­haf­tet und nach schreck­li­cher Fol­ter zu Unrecht ver­ur­teilt, da man ihm Zusam­men­ar­beit mit dem Nazi-Regime vor­wirft. Kon­eff­ke beschreibt den Lebens­weg des jun­gen Man­nes bis ins hohe Alter hin­ein und gibt für jedes Kapi­tel die genaue Zeit­span­ne an, die sich ins­ge­samt von 1935 — 2001 erstreckt.

So akri­bisch Kon­eff­ke einer­seits mit his­to­ri­schen Per­sön­lich­kei­ten und Ereig­nis­sen arbei­tet, so leicht­fer­tig über­lädt er das Gesche­hen ande­rer­seits mit über­trie­be­ner Dra­ma­tik und einer Häu­fung von Schick­sals­schlä­gen, die zu einem uner­war­tet guten Aus­gang füh­ren. So trifft Kann­ma­cher zum Bei­spiel – lan­ge nach­dem er sei­nen Kin­der­mäd­chen­pos­ten ver­lo­ren hat – zufäl­lig auf Vir­gi­nia, die inzwi­schen zu einer selbst­be­wuss­ten jun­gen Frau her­an­ge­wach­sen ist. Die­se schick­sal­haf­te Begeg­nung bleibt natür­lich nicht fol­gen­los, hier­aus ent­wi­ckelt sich eines der zen­tra­len Moti­ve des Romans: Die unwirk­lich erschei­nen­de Roman­ze zwi­schen Geschich­ten­er­zäh­ler und Zuhörerin.

Aber viel­leicht ist die­se Unwirk­lich­keit auch beab­sich­tigt. Bis zum Schluss treibt Kon­eff­ke das Spiel mit der Fik­tio­na­li­tät immer wei­ter, am Ende ist es schwie­rig, zwi­schen Geschich­te in der Geschich­te und eigent­li­cher Geschich­te unter­schei­den zu kön­nen. Der unzu­ver­läs­si­ge Ich-Erzäh­ler scheint nun end­gül­tig sei­ne Lebens­ge­schich­te nach sei­nen eige­nen Vor­stel­lun­gen zu Ende geschrie­ben zu haben. Die­ses Spiel wäre aller­dings noch reiz­vol­ler, wenn der Ich-Erzäh­ler den Leser zu Beginn jeden Kapi­tels nicht immer wie­der expli­zit und in gera­de­zu ein­bläu­en­der Wei­se dar­auf hin­wei­sen wür­de, dass er sei­ne Geschich­te für erfun­den hal­te, dass er sich nicht sicher sei, ob nicht alles doch nur ein Traum gewe­sen sein könne.

Neben die­sem Spiel mit Fik­tio­na­li­tät sind es die viel­schich­ti­gen, oft humo­ris­ti­schen Zeich­nun­gen der Cha­rak­te­re, die den Roman lesens­wert machen. Da wäre zum Bei­spiel Mar­cu als selbst­herr­li­cher Star­pia­nist, der sich je nach Vor­teil jed­we­de poli­ti­sche Ein­stel­lung zule­gen kann oder der gleich­gül­ti­ge Dan­dy Haralamb Vona, der sich als wah­rer Freund ent­puppt. Humo­ris­tisch ver­fasst sind auch die Kurz­zu­sam­men­fas­sun­gen jedes Kapi­tels, die Kon­eff­ke sei­nen Ich-Erzäh­ler vor­aus­schi­cken lässt. Sie wer­den erst nach der Lek­tü­re des Kapi­tels tat­säch­lich ver­ständ­lich und ver­lei­ten dazu, den Gal­gen­hu­mor des Prot­ago­nis­ten zu über­neh­men. Immer wie­der wer­den Refle­xio­nen über den Glau­ben und den Sinn des Lebens zwi­schen­ge­schal­tet, die durch wie­der­holt auf­ge­grif­fe­ne Wen­dun­gen, wie z.B. den „Gott des Mas­sels und Schla­mas­sels“ unter­stützt wer­den. Die Behand­lung die­ser „Sinn-Fra­gen“ scheint die über­trie­be­ne Dra­ma­tik der Hand­lung zu iro­ni­sie­ren und auf die Spit­ze zu treiben.

Nach der Lek­tü­re des sehr umfang­rei­chen Romans bleibt der Leser jedoch ein wenig ernüch­tert zurück: Zum einen, weil der irgend­wann ver­ebb­te Lebens­drang Felix Kann­ma­chers bis zum Schluss nicht mehr rich­tig zu erwa­chen scheint. Zum ande­ren, weil der Roman fast schon eine Anein­an­der­rei­hung bru­tals­ter Vor­ge­hens­wei­sen ver­schie­dens­ter Ter­ror­re­gimes die­ser Zeit ent­hält und durch detail­rei­che Beschrei­bun­gen den Schre­cken in sei­nem gesam­ten Umfang deut­lich wer­den lässt. Fast wünscht man sich, dass es sich auch hier um eine erfun­de­ne Geschich­te han­delt, in der, wie Kann­ma­cher als Begrün­dung für sei­ne Lust am Erfin­den anführt, „nichts unwi­der­ruf­lich ist und nichts, was sich in der Ver­gan­gen­heit abspiel­te, notwendig.“

Jan Kon­eff­ke: Die sie­ben Leben des Felix Kann­ma­cher
Dumont Ver­lag 2011
507 Sei­ten