“… daß auch sein eigener Körper eigentlich aus Buchstaben besteht”

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“So vie­le Ord­nun­gen, so vie­le Fremd­hei­ten”, schreibt Bern­hard Wal­den­fels in sei­ner Topo­gra­phie des Frem­den 1. Wer sich mit Frem­dem kon­fron­tiert sieht, ver­sucht, Ori­en­tie­rung und Ver­traut­heit in einer bekann­ten Ord­nung, in einer Ana­lo­gie zum Ver­trau­ten zu fin­den. Beson­ders befremd­lich, aber auch fas­zi­nie­rend erscheint da eine japa­ni­sche Autorin, Yoko Tawa­da, die auf deutsch schreibt, und deren zen­tra­les The­ma in ihren poe­ti­schen wie essay­is­ti­schen Wer­ken die Erfah­rung der Fremd­heit ist — das Schrei­ben in der Nicht-Mut­ter­spra­che, und die erklärt: “nur der kla­re Blick von außen konn­te mich dar­auf auf­merk­sam machen” 2. So ist auch “Hei­mat­lust [..] nicht der Hei­mat­ver­lust. Das ist die Lust, die man emp­fin­det, wenn man die eige­ne Hei­mat mit einem neu­en Blick betrach­tet” 3. So wird die Erfah­rung des Frem­den für die Autorin zur Chan­ce, das Ver­trau­te neu zu ent­de­cken — und genau die­se Erfah­rung des pro­duk­ti­ven Be-Frem­dens eröff­net sich den Lesern/Leserinnen ihrer Tex­te. Dabei wird deut­lich, dass das Frem­de jeweils außer­halb des Eige­nen liegt, aber auch direkt dar­an angrenzt: “Frem­des braucht schließ­lich den Kon­trast zum Eige­nen, das sich ein­grenzt, indem es ande­res aus­grenzt. Die­se Her­kunft aus einem Pro­zess der Ein- und Aus­gren­zung unter­schei­det Frem­des vom blo­ßen Ande­ren, das mit dem­sel­ben kon­tras­tiert und durch ein wech­sel­sei­ti­ge Abgren­zung zustan­de kommt.” 4 Wäh­rend der/die Ande­re not­wen­dig ist, um sich der eige­nen Indi­vi­dua­li­tät und Iden­ti­tät bewusst zu wer­den und sich das Ich eben gera­de in der Abgren­zung zu Ande­ren erfährt, ist die Fremd­heit eine Stei­ge­rung die­ser Erfah­rung. 5 Man könn­te dies in Kate­go­rien wie indi­vi­du­ell anders und kul­tu­rell fremd unter­schei­den. In Tawa­das Tex­ten domi­niert daher nicht die Anders­heit, son­dern die Fremd­heit. Die Fas­zi­na­ti­on des Frem­den im Blick auf die japa­ni­sche bzw. auf die deut­sche Kul­tur ver­mit­telt durch den japa­ni­schen Blick, hat als sati­risch gefärb­te Fremd­heits­er­fah­rung eine lan­ge Tra­di­ti­on. Dass der lite­ra­risch ver­mit­tel­te und insze­nier­te Blick des Frem­den den Blick auf die eige­ne Kul­tur schär­fen, ja die­se kri­tisch hin­ter­fra­gen kann, hat ein eige­nes Gen­re sati­risch fik­ti­ver Rei­se­be­rich­te her­vor­ge­bracht. So ließ Mon­tes­quieu im 18. Jahr­hun­dert in sei­nem Brief­ro­man Lett­re per­sa­nes (1721, deutsch: Per­si­sche Brie­fe) zwei fik­ti­ve Rei­sen­de aus Per­si­en in Paris die dor­ti­gen kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Ver­hält­nis­se mit frem­dem, miss­bil­li­gen­dem und irri­tier­tem Blick ent­lar­ven. 1726 reist in Jona­than Swifts Tra­vels into Seve­ral Remo­te Nati­ons of the World in Four Parts By Lemu­el Gul­li­ver, first a Sur­ge­on, and then a Cap­tain of Seve­ral Ships Gul­li­ver in uto­pi­sche Län­der und zeigt aus der ver­trau­ten Per­spek­ti­ve des Rei­sen­den den Blick auf ein frem­des Land, der zugleich durch den Ver­frem­dungs­ef­fekt sati­risch ins Extre­me ver­zerr­te Eigen­hei­ten der eige­nen Kul­tur ent­hüllt. Her­bert Rosen­dor­fer ver­wen­det in sei­nem Roman Brie­fe in die chi­ne­si­sche Ver­gan­gen­heit (1983; Fort­set­zung Die gro­ße Umwen­dung) den Blick eines Man­da­rin aus dem 10. Jahr­hun­dert auf das “Bay An” der Gegen­wart, um das, was selbst­ver­ständ­lich erscheint, neu und kri­tisch betrach­ten zu kön­nen. Auch Tho­mas Corag­hes­san Boyle beschreibt in sei­nem tra­gi­ko­mi­schen Roman East is East (1990; Der Samu­rai von Sav­an­nah, 1992) die Schwie­rig­kei­ten des japa­ni­schen Matro­sen Hiro Tana­ka in den USA, der sich, in Japan als Misch­ling eines ame­ri­ka­ni­schen Vaters und einer japa­ni­schen Mut­ter ver­ach­tet, als ille­ga­ler Ein­wan­de­rer im Land der unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten durch­schlägt. Eine Vor­gän­ge­rin Yoko Tawa­das, die als Japa­ne­rin in Deutsch­land jenen frem­den Blick the­ma­ti­siert, ist Hisa­ko Mat­sub­ara. Sie ver­fass­te in den acht­zi­ger Jah­ren auf Deutsch his­to­ri­sche Roma­ne und Essays über ihre Erfah­run­gen in Deutsch­land und eröff­net als ‘Frem­den­füh­re­rin’ einen Blick auf die Geschich­te Japans und sei­ne kul­tu­rel­len Eigen­hei­ten. Exem­pla­risch sei hier Raum­schiff Japan (1989) genannt, das Japan als Modell für die glo­ba­li­sier­te Gesell­schaft emp­fiehlt, denn so fremd wie ein Raum­schiff wird Japan aus der Sicht des Wes­tens gese­hen, wäh­rend der Glo­bus, inklu­si­ve Ost und West, aus der Per­spek­ti­ve des Uni­ver­sums auch nur ein “Raum­schiff” ist. 6 Vor allem Mat­sub­aras sati­ri­scher Roman Glücks­pfor­te (1980) spielt mit Vor­ur­tei­len und Miss­ver­ständ­nis­sen in der Kon­fron­ta­ti­on von Dame Ubu, einer altern­den Japa­ne­rin, die sich als Deutsch­land­ken­ne­rin aus­gibt, mit dem ehe­ma­li­gen Diplo­mat und Japan­ken­ner Maxill; bei­de wol­len ihr jewei­li­ges Gegen­über für die eige­nen Zwe­cke funk­tio­na­li­sie­ren. Dabei wer­den sowohl Ste­reo­ty­pe der Fremd­heits­er­fah­rung wie auch exis­ten­ti­el­le Ängs­te im Auf­ein­an­der­pral­len der Selbst- und Fremd­bil­der die­ser bei­den Prot­ago­nis­ten ent­larvt. Die Annä­he­rung an das Frem­de im Ver­trau­ten wird auch in Chris­toph Peters (Bildungs-)Roman Mit­sukos Restau­rant (2009), in dem japa­ni­sches Essen und die ver­lieb­ten Pro­jek­tio­nen in die Japa­ne­rin Mit­suko den Pro­zess des Erwach­sen­wer­dens im Deutsch­land der 70er Jah­re beglei­tet, zum The­ma: Die Japa­ne­rin wird hier zu einem Leit­mo­tiv, einer Meta­pher für die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem ‘Ande­ren’, mit Selbst- und Fremd­bil­dern und eben auch mit der Selbst­er­fah­rung des Prot­ago­nis­ten. Die Fremd­heits­er­fah­rung, die sich durch den Blick des/der Frem­den im ‘eige­nen’ Land ent­hüllt, sind, wie die­se Bei­spie­le aus drei Jahr­hun­der­ten zei­gen, viel­fäl­tig und zugleich von über­zeit­li­cher Gül­tig­keit. Wel­che Stra­te­gien dabei vor allem in Yoko Tawa­das Werk ange­wandt wer­den und wel­che Rol­le dabei das Erzäh­len des Mythos und das mythi­sche Erzäh­len spie­len, wird im Fol­gen­den näher unter­sucht. Eine Stra­te­gie des Umgangs mit dem Frem­den fin­det sich in Tawa­das poe­to­lo­gisch sprach­re­fle­xi­vem Erzäh­len, indem sie voll­kom­men ver­traut mit Wor­ten umgeht, um zugleich einer im Sub­text immer prä­sen­ten Fremd­heit nach­zu­spü­ren — ob im Japa­ni­schen oder im Deut­schen, wobei die deut­schen Tex­te ein noch sen­si­ble­res Bewusst­sein für die Eigen­mäch­tig­keit und Poe­sie der (‘frem­den’) Spra­che zei­gen. Tawa­das Wer­ke wer­den nahe­zu immer von einer Ich-Erzäh­le­rin geprägt, die vie­les mit der Autorin gemein zu haben scheint, so dass hier die Gren­zen zwi­schen Fik­tio­na­li­tät und Fak­ti­zi­tät ver­schwim­men, ähn­lich wie auch die Gren­zen zwi­schen sur­rea­ler Poe­sie und kri­tisch-refle­xi­vem Essay durch­läs­sig wer­den. Yoko Tawa­da schreibt in ihrem pro­gram­ma­ti­schen Text “Von der Mut­ter­spra­che zur Sprach­mut­ter” in dem Band Talis­man über unter­schied­li­che Ord­nungs- und Denk­sys­te­me im Japa­ni­schen und Deut­schen:
Die Sub­stan­ti­ve las­sen sich zwar — wie das bei den Zahl­wör­tern sicht­bar wird — in ver­schie­de­ne Grup­pen auf­tei­len, aber die­se Grup­pen haben nie das Kri­te­ri­um des Männ­li­chen oder des Weib­li­chen. Es gibt zum Bei­spiel eine Grup­pe der fla­chen Gegen­stän­de oder der läng­li­chen oder der run­den. Häu­ser, Schif­fe und Bücher bil­den jeweils eige­ne Grup­pen. Es gibt natür­lich auch die Grup­pe der Men­schen: Män­ner und Frau­en gehö­ren zusam­men dahin. Gram­ma­ti­ka­lisch gese­hen ist im Japa­ni­schen nicht ein­mal der Mann männ­lich. 7
Tawa­das Ord­nung erin­nert — nicht nur hier — an Jor­ge Lou­is Bor­ges und sein fik­ti­ves Zitat aus einer chi­ne­si­schen Enzy­klo­pä­die, die Tie­re unter­glie­dert in:
a) die dem Kai­ser gehö­ren, b) ein­bal­sa­mier­te, c) gezähm­te, d) Fer­kel, e) Sire­nen, f) Fabel­tie­re, g) her­ren­lo­se Hun­de, h) die­ser Grup­pe zuge­hö­ri­ge, i) die sich wie Ver­rück­te beneh­men, j) unzähl­ba­re, k) mit sehr fei­nem Kamel­haar­pin­sel gezeich­ne­te, 1) et cete­ra, m) die gera­de den gro­ßen Krug zer­bro­chen haben, n) die von wei­tem wie Flie­gen aus­se­hen. 8
Michel Fou­cault sah in die­ser Erzäh­lung die irri­tie­ren­de, absur­de und krea­ti­ve Kon­fron­ta­ti­on mit einer Ord­nung des Frem­den bzw. einer ‘Unord­nung’ des Ver­trau­ten, und mit ihr hat sei­ne Ord­nung der Din­ge (1966) ihren Anfang genom­men. Tawa­das Poe­sie und Poe­tik speist sich nicht nur aus abend­län­di­scher Lite­ra­tur, son­dern auch die kano­ni­sche asia­ti­sche Lite­ra­tur spielt mit dem Sinn und Unsinn von ‘Ord­nun­gen’, so etwa Das Kopf­kis­sen­buch der Hof­da­me Sei Sho­na­gon (ca. 1000 n. Chr.). Die­se sam­mel­te hei­te­re und kri­ti­sche Refle­xio­nen, Beob­ach­tun­gen, Gedich­te und Minia­tu­ren ord­nen­der Lis­ten: “Was gut ist, wenn es groß ist” oder Wor­auf man mit Unge­duld war­tet.” 9 Ver­trau­tes wird als geord­net betrach­tet, auch wenn dies für den frem­den Blick zunächst nach Ord­nungs­kri­te­ri­en geschieht, die zumin­dest eigen­ar­tig aus­se­hen. Dem­entspre­chend ist das Vor­ge­hen, Frem­des ver­traut zu machen, die­ses in ein bekann­tes Ord­nungs­mus­ter ein­zu­ord­nen. In der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Frem­den als einer anthro­po­lo­gi­schen Grund­er­fah­rung ist es also eine der Stra­te­gien, sich das Frem­de ‘anzu­eig­nen’, indem man durch Ana­lo­gie ver­trau­te Mus­ter, ein Ord­nungs­sys­tem, das auch ein Denk­sys­tem spie­gelt, sucht — und manch­mal auch fin­det. Ord­nung und Mythos gehen hier eine sich gegen­sei­tig sta­bi­li­sie­ren­de Ver­bin­dung ein, wenn der “Mythos die Welt­qua­li­tät der Befremd­lich­keit auf gestal­te­te Kon­zen­tra­te zu brin­gen [ge]sucht, ins Opti­sche über­setzt” 10, in Spra­che und Kunst trans­for­miert, was ihm an Uner­klär­li­chem begeg­net. Die Erfah­rung von Fremd­heit steht inner­halb einer Ord­nung und trans­po­niert in den Mythos ein irri­tie­ren­des oder auch ver­stär­ken­des Moment. Der Mythos ist, so Ernst Cas­si­rer, als ers­te Aus­drucks­form der sym­bol­bil­den­den Kraft des Men­schen immer schon vor­han­den und immer mit der Spra­che ver­bun­den. Er bleibt als Arbeit am Mythos, als magisch-mythi­sches Denk­sys­tem viru­lent und erfüllt eine ori­en­tie­ren­de und ord­nen­de Funk­ti­on. 11 Beson­ders in Kri­sen­si­tua­tio­nen, wenn sich die bis­he­ri­gen sozia­len Ver­bind­lich­kei­ten auf­lö­sen und das Sub­jekt die sonst ver­trau­te Ori­en­tie­rung ver­liert bzw. in Fra­ge stel­len muss oder in der Frem­de die­se als exis­ten­ti­el­le Gefähr­dung erlebt, dann wer­den ver­trau­te ‘gro­ße Erzäh­lun­gen’ zu ‘wah­ren’, Ver­bind­lich­kei­ten stif­ten­den Erzäh­lun­gen und daher auch in säku­la­ri­sier­ter Form zu tran­szen­die­ren­den Erklä­rungs­mus­tern. 12 “Die Ver­ar­bei­tung der Schre­cken des Unbe­kann­ten und der Über­mäch­tig­keit” ist eine zen­tra­le Auf­ga­be des Mythos, so die The­sen Hans Blu­men­bergs, durch eine “Ver­mensch­li­chung der Welt” 13, indem Geschich­ten erzählt und die furcht­erre­gen­de, irra­tio­na­le Natur oder die schick­sal­haf­ten Erfah­run­gen sowie unver­ständ­li­che Ereig­nis­se mit men­schen­ge­stal­ti­gen Göt­tern und Hero­en und ihren Geschich­ten gleich­ge­setzt wer­den. Die Über­win­dung die­ser Angst “geschieht pri­mär nicht durch Erfah­rung und Erkennt­nis, son­dern durch Kunst­grif­fe, wie den der Sup­po­si­ti­on des Ver­trau­ten für das Unver­trau­te, das Erklär­ba­re für das Uner­klär­li­che, der Benen­nung für das Unnenn­ba­re”. 14 Die­se Ver­traut­heit behält der Mythos als eine der Kon­stan­ten des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses — inner­halb der jewei­li­gen Kul­tur. Mythos wird hier im enge­ren Sin­ne ver­stan­den als sagen­haf­te oder mythi­sche Erzäh­lung und im wei­te­ren Sin­ne als Volks­glau­be und magisch-mythi­sches Denk­sys­tem, das auf der Basis von Ana­lo­gien ver­sucht, die Rät­sel­haf­tig­keit der Welt zu durch­drin­gen und mit­tels magi­scher Hand­lun­gen und mythi­scher Erklä­run­gen beherrsch­bar oder zumin­dest ver­steh­bar wer­den zu las­sen. Außer­dem sind zwei Arten der Rezep­ti­on, der ‘Arbeit am Mythos’ zu unter­schei­den: ein­mal die anspie­lungs­rei­che Auf­nah­me anti­ker bzw. archai­scher Mythen und zum zwei­ten die Eta­blie­rung neu­er Mythen, die die Struk­tur archai­scher Mythen mit neu­en Inhal­ten füllt, denn es gibt hier kei­ne ‘Leer­stel­len’, die nicht gleich wie­der syn­kre­tis­tisch gefüllt wür­den. Bei die­sem Vor­gang der magisch-mythi­schen Welt­an­eig­nung und Welt­erklä­rung kann durch eine Ver­schrän­kung zwei­er Kul­tur­krei­se ein Mythos hier alt und ver­traut und dort neu und fremd oder aber auch ver­traut im neu­en Kon­text wir­ken. Die Funk­tio­na­li­sie­rung von Mythen zur Ver­si­che­rung der eige­nen Iden­ti­tät wen­det sich in zwei Rich­tun­gen, in die Ver­gan­gen­heit bereits ver­trau­ter Mythen und tra­dier­ter Mus­ter und in die Zukunft mit ihrer Recht­fer­ti­gung ’neu­er’ Mythen. 15 Der Mythos als sinn­stif­ten­de, expli­ka­ti­ve Erzäh­lung ist einer­seits zeit­los und kann ande­rer­seits immer wie­der akti­viert und erneu­ert wer­den; auch in ihrer säku­la­ri­sier­ten Aus­prä­gung kön­nen die­se Mythen qua­si-reli­giö­se Funk­tio­nen über­neh­men und Heils­er­war­tun­gen ver­mit­teln, die heu­te weni­ger jen­sei­tig als dies­sei­tig ori­en­tiert sind. Das heißt, obwohl es zu einer ‘Ein­schrän­kung’, einem Rück­zug des Mythos durch die Säku­la­ri­sa­ti­on kommt, ist den­noch das Mythi­sche prä­sen­ter denn je, und zwar mei­nes Erach­tens über die Begren­zung auf münd­li­che Tra­die­run­gen hin­aus,
als das­je­ni­ge, was zwi­schen den ver­schie­de­nen Ele­men­ten einer Kul­tur […] ein Spiel sym­bo­li­scher Bezü­ge her­zu­stel­len erlaubt, das die rela­ti­ve Kohä­renz, Sta­bi­li­tät und Bestän­dig­keit des Gan­zen sichert. Was das Mythi­sche im Ver­hält­nis zum Mythos an schein­ba­rer Prä­zi­si­on ver­lo­ren hat, gewinnt es an Bedeu­tung und Aus­deh­nung: In allem, was inner­halb tra­di­tio­na­ler Zivi­li­sa­tio­nen das intel­lek­tu­el­le Gewe­be, den geis­ti­gen Aspekt des kol­lek­ti­ven Lebens aus­macht, ist das Mythi­sche am Werk, um ein gemein­sa­mes Den­ken, ein geteil­tes Wis­sen auf­zu­bau­en, zu struk­tu­rie­ren, zu ord­nen, zu sys­te­ma­ti­sie­ren und assi­mi­lier­bar zu machen. 16
Die Arbeit des ‘mytho­lo­gi­schen’ Wis­sen­schaft­lers ist dann die Ent­schlüs­se­lungs­ar­beit, das Auf­zei­gen der mythi­schen Struk­tu­ren und Funk­tio­nen inner­halb des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses und anhand der Kon­kre­ta der erzähl­ten Mythen, was im Fol­gen­den an exem­pla­ri­schen Tex­ten Tawa­das, die sowohl Mythen adap­tie­ren und reflek­tie­ren, wie auch ‘mythisch’ erzäh­len, gesche­hen soll, indem die Rol­le des Mythos und des mythi­schen Den­kens als spe­zi­el­le Form von ord­nungs­stif­ten­dem Umgang mit Fremd­heit in Yoko Tawa­das Werk ana­ly­siert wird. Für Yoko Tawa­da sind etwa die mythi­schen Erzäh­lun­gen Ovids und die Meta­mor­pho­sen ein zen­tra­les poe­to­lo­gi­sches Moment auf ver­schie­de­nen Ebe­nen des Erzäh­lens, als Arbeit am Mythos, als Rezep­ti­on der kon­kre­ten Tex­te in Opi­um für Ovid und als Prin­zip der Wan­del­bar­keit, das sich in der zen­tra­len Meta­pher des Was­sers fin­det. Magisch-mythi­sches Erzäh­len durch­zieht alle Tex­te von Tawa­da in ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit der Erfah­rung einer frem­den Kul­tur und der Refle­xi­on über die (deut­sche) Spra­che. Mythen wer­den dabei zu ‘Ver­stär­kern’ — sei es als Prin­zip der Aneig­nung, der Suche nach ver­trau­ten Mus­tern und Ana­lo­gien, sei es als Ver­such Rät­sel und unver­ständ­li­che Zei­chen mit­tels magisch-ritua­li­sier­ter Hand­lun­gen und Deu­tun­gen zu erklä­ren. Dies beginnt schon mit der Betrach­tung des Alpha­bets als “Sprach­kör­per”, der in ihrer zwei­ten Tübin­ger Poe­tik­vor­le­sung “Schrift einer Schild­krö­te” 17 zusam­men mit einem Blick auf die gra­vie­ren­den Unter­schie­de zu asia­ti­schen Bil­der­schrif­ten vor­ge­stellt wird. In koket­tem Kon­trast zu der hell­sich­ti­gen Ana­ly­se spricht Tawa­da immer wie­der von den magisch-mythi­schen Abgrün­den des frem­den latei­ni­schen Alpha­bets: “Dage­gen ist jeder Buch­sta­be des Alpha­bets ein Rät­sel. […] der Kunst des Ana­gramms liegt die Magie des Alpha­bets zugrun­de” (S. 30). “Es kann gefähr­lich sein, einen Buch­sta­ben in die Welt zu set­zen, denn der Autor oder genau­er gesagt der Set­zer kann nicht wis­sen, was aus ihm wird.” (S. 31);
in sol­chen Druck­feh­lern wirkt die Unbe­re­chen­bar­keit der Buch­sta­ben fast unheim­lich. Ich unter­stel­le ihnen sogar manch­mal, dass sie eine Absicht haben […] Viel­leicht will der Com­pu­ter mir damit sagen, dass man durch das Schrei­ben Geheim­nis­se erzeugt. Denn Schrei­ben heißt zunächst, Buch­sta­ben zu set­zen und damit alpha­be­ti­sche Kör­per in die Welt zu set­zen, ohne an ihre unbe­schränk­te Ver­wand­lungs­fä­hig­keit zu den­ken. (S. 31f.)
… womit wir wie­der bei einem zen­tra­len Motiv tawa­da­ni­scher Poe­sie wären. Sie zitiert sodann einen ihrer frü­hen Tex­te, den sie hier selbst­re­flek­tie­rend wei­ter­erzählt und Namen und Buch­sta­ben als Bil­der und Zei­chen gleich­sam magisch aus­deu­tet: ?‘Airo­lo’. In die­sem Namen steht zwei­mal der Buch­sta­be ‘O’, als woll­te der Name die Form der Tun­nel­aus­gän­ge, die ich hin­ter mir gelas­sen hat­te, nach­bil­den. Die run­den Tun­nel­aus­gän­ge tau­chen ab Airo­lo immer wie­der in den Orts­na­men auf: Lavor­go, Gior­ni­co, Bodio usw.” und vor­her, so ihre Asso­zia­tio­nen mit dem Namen Gott­hard: “Durch den Gott­hard fah­ren, hieß durch den Kör­per eines Man­nes fah­ren.” 18 Tawa­da ent­wirft immer wie­der mythisch inspi­rier­te Schöp­fungs­ge­schich­ten, die zugleich Ver­wand­lungs­ge­schich­ten sind, sie reflek­tiert ihre Selbst­schöp­fung als Autorin, ein­ge­bet­tet in Mythen, die sie auf ihrer Rei­se wie Wur­zeln in ihre ver­trau­te Kul­tur beglei­ten und die zugleich mit Aus­le­gun­gen der Spra­che, mit dem Aus­lo­ten der Mög­lich­kei­ten der frem­den Spra­che ver­bun­den sind. Exem­pla­risch ist Tawa­das Ver­schrän­kung des distan­zier­ten Blicks der Beob­ach­te­rin als Tou­ris­tin wäh­rend einer Stadt­füh­rung durch Rothen­burg, in der eine fer­ne, frem­de Zeit, das Mit­tel­al­ter, kon­ser­viert scheint, indem sie die Selbst­re­fle­xi­vi­tät des bewuss­ten Blicks und die Per­spek­ti­ve der Frem­den auf das Frem­de mit der sagen­haf­ten und ritu­el­len Hand­lung des japa­ni­schen “Fuchs­fens­ters” ver­bin­det und damit die dop­pelt gespie­gel­te Per­spek­ti­vie­rung als poe­to­lo­gi­sches Prin­zip mit einer mythi­schen, hier Ver­trau­en erwe­cken­den Hand­lung ver­bin­det. Die­se Per­spek­ti­vie­rung bezieht zugleich den deut­schen Leser mit ein, für den weni­ger Rothen­burg, aber umso mehr das Fuchs­fens­ter fremd ist. Dadurch wird ein neu­er, irri­tie­ren­der bzw. irri­tier­ter Blick auf schein­bar Ver­trau­tes mög­lich, das hier sei­ne Künst­lich­keit, sei­ne ‘Fremd­heit’ ver­deut­licht — so wie sonst die Natur, die Wild­nis als fremd und gefähr­lich, als aus der Ord­nung her­aus kata­pul­tie­rend erfah­ren wur­de und die­se exis­ten­ti­el­le Fremd­heits­er­fah­rung ver­wan­delt sich in ein — lös­ba­res — Rät­sel, so auch der Titel der Erzäh­lung, “Rothen­burg ob der Tau­ber: Ein deut­sches Rät­sel”.
Viel­leicht war das der Grund, war­um es mir so schwer­fiel, zu glau­ben, dass die­se alten Fach­werk­häu­ser tat­säch­lich dort stan­den. Mir kam es vor, als wür­den sie schwan­ken, ver­schwim­men und mei­nem Blick­feld ent­glei­ten. Erst durch die Lin­se mei­nes Foto­ap­pa­ra­tes konn­te ich die Stadt rich­tig betrach­ten, die auf ein­mal klein wie die Büh­ne eines Pup­pen­thea­ters aus­sah. Sie war ein­ge­rahmt und wirk­te wei­ter ent­fernt von mir als vor­her. Ich erin­ner­te mich an eine japa­ni­sche Sage von dem soge­nann­ten Fuchs­fens­ter: Wenn man allein im tie­fen Gebir­ge unter­wegs war, bekam man manch­mal das Gefühl, als wür­de man unver­se­hens eine see­li­sche Gren­ze über­schrei­ten und somit nie wie­der als zivi­li­sier­ter, ver­nünf­ti­ger Mensch in die Stadt zurück­keh­ren kön­nen. In dem Fall soll­te man schnell mit bei­den Hän­den einen Kreis bil­den und durch die­se Öff­nung die Natur­land­schaft noch ein­mal betrach­ten. Dadurch konn­te man es ver­mei­den, die gefähr­li­che Gren­ze zu über­schrei­ten und ver­rückt zu wer­den. Den Kreis, den man mit den Hän­den bil­de­te, nann­te man das Fuchs­fens­ter. Mit dem Foto­ap­pa­rat ver­hielt es sich ähn­lich: Der Foto­ap­pa­rat ist das Fuchs­fens­ter für die Rei­sen­den im Aus­land. (S. 32f.) 19
Was frü­her fremd­ar­ti­ge Natur war und in roman­ti­schen Tex­ten die Gefüh­le und See­len­zu­stän­de der Prot­ago­nis­ten spie­gelt 20, die in einer Grenz­erfah­rung und Grenz­über­schrei­tung, etwa in der Wild­nis, im Gebir­ge oder unter der Erde zu einer exis­ten­ti­el­len Irri­ta­ti­on wer­den kann, so dass der Prot­ago­nist ver­rückt wer­den bzw. aus der Ord­nung her­aus fal­len kann, hat sich heu­te häu­fig in die Erfah­rung des ‘Groß­stadt­dschun­gels’ ver­la­gert; nicht die Natur, son­dern die Stadt in einer ande­ren Kul­tur wird zugleich als ver­traut und als fremd erfah­ren: Baum ist Baum und Haus ist Haus, aber jeder Gegen­stand kann jeweils voll­kom­men anders aus­se­hen, ande­re Funk­tio­nen, eine ande­re kul­tu­rel­le Geschich­te ver­ber­gen. Es ist die­se exis­ten­ti­el­le Selbst­er­fah­rung von Fremd­heit, die gera­de auch in der eigent­lich hoch­zi­vi­li­sier­ten Umge­bung einer in musea­ler Redu­pli­zie­rung der eige­nen Ver­gan­gen­heit erstarr­ten Stadt wie Rothen­burg ob der Tau­ber die­se Selbst­ver­si­che­rung und Selbst­ver­or­tung in der Gegen­wart not­wen­dig macht. Das Kli­schee der pho­to­gra­phie­ren­den Japa­ner erhält in Tawa­das Rei­se­er­fah­rung aus deut­scher Per­spek­ti­ve eine neue Erklä­rung: Es wird nicht pho­to­gra­phiert, son­dern gera­de das Ritu­al des Fuchs­fens­ters voll­zo­gen … Und nicht nur die Ich-Erzäh­le­rin ist sich ihrer Fremd­heit bewusst, son­dern auch der Rezi­pi­ent teilt nun die­se Erfah­rung bzw. wird sich als Beob­ach­ter die­ser Hand­lun­gen sei­ner eige­nen Rol­le bewusst. Bern­hard Wal­den­fels betont die Bedeu­tung die­ser Selbst­re­fle­xi­on, vor allem auch inner­halb eines eth­no­gra­phi­schen For­schungs­pro­zes­ses, wenn das Indi­vi­du­um sich bewusst mit frem­dem Leben in einer ande­ren Kul­tur aus­ein­an­der­setzt, über “die psy­chi­sche Ver­fas­sung oder die sozia­le Stel­lung des indi­vi­du­el­len eth­no­lo­gi­schen For­schers” 21 hin­aus., so dass die Welt­erfah­rung immer auch eine Selbst­er­fah­rung beinhal­tet, die sich in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Fremd­heit zu einer anthro­po­lo­gi­schen Seins­er­fah­rung bis hin zum Frem­den in uns selbst aus­wei­ten lässt. Das Bad 22 erzählt die Geschich­te einer dau­er­haf­ten und exis­ten­ti­el­len Fremd­heits­er­fah­rung, die Irri­ta­ti­on (an) der eige­nen Iden­ti­tät. Wenn die Funk­ti­on des Mythos als für die Gesell­schaft ord­nungs­stif­tend beschrie­ben wird, so gilt dies hier auch für das Leben der Ich-Erzäh­le­rin, die sich ihres Selbst, ihrer Geschich­te, ihrer Kind­heit, ihrer Erin­ne­run­gen und damit ihrer Iden­ti­tät zu ver­si­chern ver­sucht, indem sie ihre indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen mit mythi­schen Erzäh­lun­gen in Ver­bin­dung bringt und Ähn­lich­kei­ten und Erklä­run­gen sucht. Sie ori­en­tiert sich an sagen­haf­ten Figu­ren, an Frau­en mit schup­pi­gem Schlan­gen­leib, an mythi­schen Ver­wand­lun­gen, die, da die Ich-Erzäh­le­rin als Frem­de im Wes­ten, in Deutsch­land, lebt, sich aus öst­li­chen Mythen bedient, jedoch zugleich den deutsch­spra­chi­gen Leser ‘pro­vo­ziert’, die­se ihm frem­den Mythen mit ver­trau­ten west­li­chen Mythen zu ergän­zen, also hier den­sel­ben Vor­gang wie die Ich-Erzäh­le­rin nach­zu­voll­zie­hen. Dabei bleibt als zusätz­li­che Irri­ta­ti­on der Ein­druck, es mit einer weni­ger unglaub­wür­di­gen, als viel­mehr unzu­ver­läs­si­gen, weil wand­lungs­fä­hi­gen bzw. sich ihrer Iden­ti­tät selbst unsi­che­ren Erzäh­le­rin zu tun zu haben, die auch die intra­fik­tio­na­len Gren­zen zwi­schen Traum und All­tag, zwi­schen rea­len Per­so­nen und Geis­tern über­schrei­tet; so stellt die Ich-Erzäh­le­rin zu Beginn des vor­letz­ten, neun­ten Kapi­tels fest: “In Wirk­lich­keit war ich gar kei­ne Dol­met­sche­rin; hin und wie­der habe ich eine Dol­met­sche­rin imi­tiert. In Wirk­lich­keit war ich nur eine Typis­tin. Jetzt, wo ich mei­ne Zun­ge ver­lo­ren hat­te, konn­te ich nicht ein­mal mehr eine Dol­met­sche­rin imi­tie­ren”. 23 Doch sie fin­det eine neue Auf­ga­be, die die Gren­zen zwi­schen Rea­lem und Irrea­lem durch­läs­sig macht und die prag­ma­ti­schen Erwar­tun­gen der einen Welt in die ande­re trans­po­niert: “Ich bekam immer mehr Auf­trä­ge, weil Typis­tin­nen, die die Stim­me der Geis­ter umset­zen, in der letz­ten Zeit immer sel­te­ner gewor­den waren.” So wird der Leser Zeu­ge einer tie­fen Ver­un­si­che­rung, die sich von Außen nach Innen, vom Abbild zur Per­son fort­setzt, wäh­rend die Ich-Erzäh­le­rin in genau­es­ter Selbst­be­ob­ach­tung und mit trös­ten­den Exkur­sen in eine mythi­sche Welt ein­taucht und die Gren­zen, etwa der Haut als Gren­ze zwi­schen Innen und Außen, durch­läs­sig wer­den, sich Spra­che und Iden­ti­tät in Zun­ge und Schup­pen ‘ver-kör­pern’: “Die Haut ist eine Mem­bra­ne, die die­se Welt von jener Welt trennt. Ich tra­ge, bis die Haut durch­sich­tig wird, eine spe­zi­el­le Schmin­ke auf.” (10. Kapi­tel). Im Unter­schied zu den auf deutsch geschrie­be­nen Tex­ten Tawa­das ist die­ser ursprüng­lich japa­ni­sche Text, den Tawa­da nicht selbst über­setzt hat, nicht durch­setzt von Sprach­spie­len, auch wenn das Unver­mö­gen zu spre­chen durch den Ver­lust der Zun­ge auch hier the­ma­ti­siert wird und sich ein neu­es Organ, die Schreib­ma­schi­ne, sucht. Traum­spie­le und Ver­wand­lun­gen, Iden­ti­täts­ver­schie­bun­gen und exis­ten­ti­el­le Fremd­heits­er­fah­run­gen als Selbst- und Welt­erfah­rung prä­gen die­se Erzäh­lung. Die Ich-Erzäh­le­rin über­schrei­tet dabei selbst ‘mensch­li­che’ Gren­zen hin zum Ani­ma­li­schen und Mythisch-Irrea­len, so spielt sie auf der ers­ten Sei­te auf den Vam­pir-Mythos an, denn ihr Gesicht ist “blut­leer, wie das einer Toten. Wahr­schein­lich erin­ner­te mich der Rand des Spie­gels des­halb an den Rand eines Sar­ges” (1. Kapi­tel). Die­ses Bild wird zum Schluss wie­der auf­ge­grif­fen und gestei­gert. Die letz­ten Wor­te lau­ten: “denn ich bin auf Pho­tos gar nicht zu sehen. Ich bin ein trans­pa­ren­ter Sarg”. Aus­ge­hend von der kos­me­ti­schen Bear­bei­tung des ‘Spie­gel­bil­des’ asso­zi­iert die Ich-Erzäh­le­rin ihre Haa­re mit Redens­ar­ten bzw. Über­lie­fe­run­gen des Volks­glau­bens, “Man sagt, in den Haa­ren steckt eine geheim­nis­vol­le Kraft” (1. Kapi­tel), und erin­nert sich an eine mythi­sche Über­lie­fe­rung einer “sehr gefräßige[n] Frau. Weil sie ger­ne arbei­te­te und ein gutes Herz hat­te, wur­de sie von allen geliebt”, dann jedoch wird sie heim­lich beob­ach­tet und ein Mann sieht, “dass die Haa­re der Frau Schlan­gen waren und Reis aßen”, dar­auf­hin wird die Frau als Dämo­nin erschos­sen. Die Schlan­gen­haa­re las­sen sofort an die Medu­se den­ken, die jedoch nicht durch den bzw. infol­ge des Blicks der ande­ren getö­tet wird, son­dern selbst als Mas­ke des Ent­set­zens durch ihren Blick und Anblick tötet. Der Blick wird hier­mit leit­mo­ti­visch ein­ge­führt, so wie sich die Ich-Erzäh­le­rin immer wie­der durch den Blick in den Spie­gel ihrer selbst bzw. ihrer Meta­mor­pho­se in ein Schlan­gen­we­sen ver­si­chert; anfangs ver­gleicht sie sich noch mit einem Pho­to, doch wird schließ­lich deut­lich, dass sich dahin­ter ein frem­des Bild ver­birgt, dass der Pho­to­graph Xan­der, ihr Freund, gemacht hat und sie hier nur ein “Modell” ist, nur die “Gestalt einer Japa­ne­rin” (2. Kapi­tel), über die er ver­fügt, ein ‘Fremd-Bild’, kein Selbst­bild. Der nar­ziss­ti­sche Blick in den Spie­gel führt hier zu einer tie­fen Irri­ta­ti­on, in dem gera­de das eige­ne Abbild Fra­gen nach dem Selbst und nach der (Selbst-)Täuschung zwi­schen Illu­si­on und Rea­li­tät pro­vo­ziert: “Wir befra­gen den Mythos, das Gewim­mel sei­ner Gestal­ten, deu­ten, rät­seln, inter­pre­tie­ren dar­an her­um — nicht, um uns das alles neu zu bele­ben, son­dern um es auf­zu­lö­sen; in uns, in die Züge unse­res eige­nen rät­sel­haf­ten Gesichts. Was könn­te auch den Umgang mit einer so win­zi­gen Fabel wie der von dem Kna­ben Nar­ziß ande­res erklä­ren, als eben die­ses schmerz­haft unge­lös­te Pro­blem, die nagen­de Fra­ge: Wer bin ich? Was ist das: das Dasein.” M24 Spä­ter begeg­net sie dem Geist einer Frau, von dem ihr die ande­ren erzäh­len, sie sei in die­sem Haus ver­brannt, “viel­leicht haben ihre Haa­re Feu­er gefan­gen”, so wird über Mord oder viel­mehr Selbst­mord spe­ku­liert. Die­se Frau ist der Ich-Erzäh­le­rin näher, ver­trau­ter, als alle ande­ren Figu­ren der Erzäh­lung: “Sie zeig­te mir, was sie in ihrer Hand hielt. Es war mei­ne Zun­ge”; ‘Sie strei­chel­te mei­nen Hand­rü­cken. An den Stel­len, an denen sie mich gestrei­chelt hat­te, wuch­sen mir glän­zen­de Schup­pen. […] ‘Höre mir gut zu. Ich rede zu dir, weil außer dir kei­ner mehr mei­ne Spra­che ver­steht’.” Sie ver­wan­delt sich: “Die Frau im Spie­gel, das war nicht ich. Sie war es. Ohne Zwei­fel. Ich dreh­te den Spie­gel um.” (6. Kapi­tel) Die Ich-Erzäh­le­rin wird zur “Schup­pen­trä­ge­rin”, ein gro­tes­kes Wesen zwi­schen Mensch, Fisch und Schlan­ge und fragt sich, wel­chen Platz sie noch in der mensch­li­chen Gesell­schaft ein­neh­men kann, etwa als Zir­kus­at­trak­ti­on oder als kan­ni­ba­lisch inspi­rier­tes Hoch­zeits­ge­richt. Schließ­lich ver­schwim­men die Iden­ti­tä­ten: Sie, die Frau, wird zum “Schup­pen­vo­gel”, die Ich-Erzäh­le­rin wird von Xan­der ange­fah­ren, die­ser gibt ihr ein Mes­ser, mit dem sie den Schup­pen­vo­gel tötet, doch dann, “wenn die Haut schließ­lich durch­sich­tig gewor­den ist, erscheint dahin­ter die Gestalt jener toten Frau. […] ich bin ein trans­pa­ren­ter Sarg.” (10. Kapi­tel); am Schluss bleibt nur noch die Hül­le, die Umhül­lung der Toten und selbst die­se ist durch­sich­tig, also nahe­zu unsicht­bar bzw. lässt die Umge­bung durch­schei­nen. Die Meta­mor­pho­se der Ich-Erzäh­le­rin scheint damit ten­den­zi­ell unab­schließ­bar, denn durch die Trans­pa­renz wird sie immer das, was dahin­ter liegt, durch­schei­nen las­sen — ein mytho­poie­ti­sches Prin­zip, in dem die Gren­ze vom Mensch zum Tier, zur Pflan­ze, zum Geist oder Dämon, ja zum Gegen­stand über­schrit­ten wird. Wäh­rend das Ich sich sonst über den Kon­text defi­niert, wird hier die Gren­ze so durch­läs­sig, dass das Ich ver­schwin­det und es nur noch ein unsicht­ba­res ‘Behält­nis’ für sei­ne Umwelt ist. Meta­mor­pho­sen, etwa die Tex­te Ovids, sind meist aitio­lo­gi­sche Mythen und illus­trie­ren eine meta­pho­risch-erzäh­le­ri­sche Umset­zung magisch-mythi­schen Den­kens, so dass sich in der Ver­wand­lung an sich eine chao­ti­sche Welt zeigt, die durch die nar­ra­ti­ve Teleo­lo­gie im Mythos wie­der eine eige­ne Ord­nung fin­det, die eine exis­ten­ti­el­le Erfah­rung wider­spie­gelt wie das “omnia mutan­tur” Ovids. Die Ver­wand­lun­gen sind daher grund­le­gen­de Struk­tur­ele­men­te des Mythos, der zugleich eine Welt­erklä­rung anbie­tet. ‘Indem Meta­mor­pho­sen-Erzäh­lun­gen auf eine ‘Situa­ti­on theo­re­ti­scher Ver­schlos­sen­heit und Unein­sich­tig­keit’ par excel­lence reagie­ren, auf die Flüch­tig­keit der Zeit näm­lich, zer­le­gen sie zugleich die in ihren Geschich­ten dyna­mi­sier­ten semio­ti­schen Pro­zes­se.” 25 Die Meta­mor­pho­se kann dabei einen unter­schied­li­chen Ver­lauf neh­men, sie kann sich ziel­ge­rich­tet von einer Aus­gangs­fi­gur in eine ande­re ent­wi­ckeln oder auch wie­der zir­ku­lär zu ihrem Ursprung zurück­keh­ren, die Ver­wand­lung kann all­mäh­lich, pro­zess­u­ral ablau­fen, oder sprung­haft, ohne Zwi­schen­schrit­te, sie wirkt vor allem inno­va­tiv, beweg­lich und vol­ler Poten­ti­al, kann aber auch destruk­tiv, mor­bi­de oder im all­mäh­li­chen Still­stand fast sta­tisch wir­ken, sie kann rever­si­bel oder unum­kehr­bar sein; es gibt die psy­chi­sche und phy­si­sche Meta­mor­pho­se, die sicht­ba­re und die nur mit­tel­bar erkenn­ba­re Wand­lung. 26 In Tawa­das Text Das Bad wer­den alle die­se Ver­wand­lungs­for­men vari­an­ten­reich durch­ge­spielt, unab­hän­gig davon, ob die­se Ver­wand­lun­gen Pro­jek­tio­nen sind oder Ima­gi­na­ti­ons­fi­gu­ren. Meta­poe­tisch wird damit der Wahr­heits­ge­halt der Erzäh­lung als mythisch reflek­tiert. Ein kri­ti­scher Blick auf die Gesell­schaft zeigt sich in der Imi­ta­ti­on von Rol­len­mus­tern durch die Ich-Erzäh­le­rin, die wie ein Mas­ken­spiel insze­niert wer­den, die Suche nach Mus­tern, nach Ori­en­tie­rung, einen Lebens­ent­wurf zu fin­den — bis hin zur Rol­le der Geis­ter­frau. Nicht ein­mal die Rol­le der Ich-Erzäh­le­rin ist ‘zuver­läs­sig’, auch die­se Rol­le wird in einer meta­fik­tio­na­len Spie­ge­lung reflek­tiert und ad absur­dum geführt. Das Bad erzählt nicht nur die beklem­men­de Geschich­te einer Ver­wand­lung, eines Iden­ti­täts­ver­lus­tes in einer frem­den Umge­bung, son­dern zeigt auch den Ver­such, eine eige­ne ‘Genea­lo­gie’, eine eige­ne Geschich­te in einer frem­den Kul­tur zu ver­an­kern bzw. sich die eige­ne Iden­ti­tät in einer frem­den Umge­bung zu bewah­ren: Tawa­da inter­pre­tiert hier­für in einer mythi­schen Les­art den Mythos der Melu­si­ne, der Frau mit dem Schlan­gen­leib, die in einer Mahr­ten­ehe lebt, neu. Melu­si­ne for­dert das Tabu ein, dass sie ein­mal im Monat unbe­ob­ach­tet, ohne den frem­den Blick ein Bad neh­men dür­fe — und so, ohne Zeu­gen, für eine kur­ze Zeit­span­ne in der Inti­mi­tät des Bades, allein mit sich in ihren ursprüng­li­chen Kör­per zurück­keh­ren kann. Ihr Mann kann sei­ne Neu­gier­de — und sein Miss­trau­en — nicht bezäh­men und bricht das Tabu, beob­ach­tet sei­ne Frau beim Baden bzw. im Bad, als sie sich in eine Schlan­ge ver­wan­delt hat; nun muss sie ihn ver­las­sen, bleibt aber als die genea­lo­gi­sche Urmut­ter des fran­zö­si­schen Adels­ge­schlechts der Lusignan im Gedächt­nis. 27 In Tawa­das Schlan­gen­frau-Varia­ti­on als einer inter­tex­tu­el­len und syn­kre­tis­ti­schen Ver­knüp­fung von Mythen schwin­gen die öst­li­chen Mythen von ver­wan­del­ten Schlan­gen- und Fisch­frau­en mit, aber auch die der euro­päi­schen Lite­ra­tur. Damit demons­triert der neu erzähl­te Mythos die poe­to­lo­gi­sche Insze­nie­rung einer weib­li­chen Genea­lo­gie von Autor­schaft, die sich in einer frem­den, um nicht zu sagen feind­se­li­gen, ‘fremd-bestimm­ten’ Umge­bung zu behaup­ten bzw. sich in mythi­schen Gestal­ten frem­den Rol­len­zu­wei­sun­gen zu ent­zie­hen ver­sucht. Im Band Talis­man führt die Ich-Erzäh­le­rin in der gleich­na­mi­gen Geschich­te ihre magisch ent­lar­ven­de Sicht auf die nur schein­bar ver­trau­ten Din­ge (wie Ohr­rin­ge) vor und der Leser lässt sich auf die­se Spiel­re­geln ein, ohne sei­ne Distanz, die zwi­schen Irri­ta­ti­on und Spiel­freu­de chan­giert, auf­ge­ben zu müs­sen. So beschreibt die gleich­na­mi­ge Erzäh­lung oder der Essay, die Gen­re­zu­schrei­bung ist hier flie­ßend, die teils eth­no­gra­phisch-ein­füh­len­de, teils naiv-krea­tiv inter­pre­tie­ren­de Beob­ach­tung eines Talis­mans und sei­ner Trä­ge­rin Gil­da (schnell erkennt der Leser, es han­delt sich um Ohr­rin­ge, aber genau dies wird erst spä­ter so benannt). Die Ich-Erzäh­le­rin sucht zuerst nach einem ‘Namen’ und ver­sucht den Kon­text des Ritu­als zu rekon­stru­ie­ren, als sei sie Eth­no­lo­gin, die frem­de Riten stu­die­re. Der pseu­do-nai­ve Blick wird noch erwei­tert, als Gil­da, die Stu­den­tin mit den Ohr­rin­gen, erklärt, es hand­le sich nur um ein Schmuck­stück. Dies bestä­tigt die magi­sche Welt­sicht, denn die Bedeu­tung dahin­ter ist: Gil­da woll­te “nicht über die Bedeu­tung des Ohr­rings reden”, so wie die Erzäh­le­rin zuvor schon fest­stell­te: “der Name eines gefähr­li­chen Wesens darf nicht aus­ge­spro­chen wer­den” (S. 53). Die Erzäh­le­rin ist also die Wis­sen­de, die Ein­ge­weih­te, die die magi­schen Kräf­te erkennt — und damit gewis­ser­ma­ßen ihre Umge­bung affi­ziert, wenn Gil­da auf ihre Emp­feh­lung hin einen Talis­man, ein Schutz­zei­chen (der der Erzäh­le­rin in sei­ner Aus­sa­ge aber nicht plau­si­bel vor­kommt, denn er lau­tet: “nein dan­ke!”) an ihrem Com­pu­ter anbringt, in dem offen­sicht­lich ein böser Geist wohnt, um so die Herr­schaft über die am Com­pu­ter geschrie­be­nen Wor­te wie­der­zu­ge­win­nen. Es ist eine amü­san­te Vor­füh­rung, ja ein Ad-absur­dum-Füh­ren der Logik des Zir­kel­schlus­ses, der auf einer poe­to­lo­gi­schen Ebe­ne auf die magi­sche Kraft der Namen und Zei­chen auf­merk­sam macht. Der Leser als Mit­spie­ler bekommt zur Beloh­nung einen neu­en Ein­blick in eine nur schein­bar ver­trau­te Welt: Es ist der Ver­such, das Wesen, den Sinn hin­ter der Ober­flä­che zu suchen und zu fin­den — und viel­leicht sogar die Dif­fe­renz zwi­schen Ding und Wort zu über­win­den. Die Tech­nik, selbst­ver­ständ­li­che Din­ge des All­tags mit dem nai­ven Blick des Außen­sei­ters zu betrach­ten, die etwa auch Bir­git Van­der­be­ke in ihren Erzäh­lun­gen 28 zur Meis­ter­schaft ent­wi­ckelt hat, ent­larvt die Ver­traut­heit als Gewohn­heit, ja als eine Form von Stu­pi­di­tät: Gil­das Jacke ist nicht aus Leder, son­dern “aus der Haut eines toten Tie­res” (S. 56) und ihre Hose mit Leo­par­den­mus­ter wird zur Mas­ke, zur scha­ma­nis­ti­schen Ver­klei­dung. Fol­ge­rich­tig soll der äuße­ren Ver­än­de­rung auch die inne­re Rei­ni­gung, die Rei­ni­gung ihres unge­lieb­ten Flei­sches von der Che­mie frem­der Ein­flüs­se fol­gen. Für die Ich-Erzäh­le­rin, die all die­se Aktio­nen mit dem Blick der ein­fühl­sa­men Beob­ach­te­rin beglei­tet und mit Ritua­len und Mythen zu erklä­ren ver­sucht, mün­den die­se hilf­lo­sen Ver­su­che Gil­das, sich durch ober­fläch­li­che, modisch initi­ier­te Hand­lun­gen, Attri­bu­te und Ideo­lo­gien zu ori­en­tie­ren, eine Iden­ti­tät zu gewin­nen, in den Ver­lust eben die­ser Ver­traut­heit, ja sogar ihrer indi­vi­du­el­len Iden­ti­tät: “sie erschien mir plötz­lich wie eine Frem­de, die mich — obwohl ich in ihrer Spra­che leb­te — nicht ver­steht.” (S. 56f.). Die Spra­che hat für die Erzäh­le­rin magi­sche Qua­li­tä­ten, sie ent­hüllt das Wesen der Din­ge, sie wirkt zei­chen­haft und viel­deu­tig. Sprach­ma­gie und Magie bedeu­tet hier nicht Okkul­tis­mus, kei­ne eso­te­ri­sche Lehr­mei­nung, son­dern die Suche, die Auf­de­ckung, die Benen­nung des Geheim­nis­ses, die Suche nach dem Schlüs­sel, kein dunk­les Gerau­ne, son­dern ein an Paul Cel­ans Dich­tung geschul­ter Her­me­tis­mus 29, der sich spe­zi­fi­scher Schlüs­sel­wör­ter bedient wie etwa der Zun­ge. Er ist nicht irra­tio­nal, son­dern ergänzt die ratio­na­len Mög­lich­kei­ten der Spra­che, ist phan­ta­sie­voll, nicht kon­kur­rie­rend, son­dern erwei­tert logisch-ratio­na­le oder wis­sen­schaft­lich-lin­gu­is­ti­sche Erklä­rungs­mo­del­le — genau wie das Erzäh­len des Mythos. So wird die Lin­gu­is­tik als die Wis­sen­schaft von der Spra­che und der Zun­ge und die Ethy­mo­lo­gie im wört­li­chen Sinn zu einer Leh­re von der “Wahr­haf­tig­keit” — Ety­mo­lo­gia der Wör­ter. Mit die­ser Wort­ge­schich­te ver­bin­det Tawa­da Ent­le­ge­nes, ent­larvt Ver­trau­tes als Frem­des, sieht im Detail das Gan­ze gespie­gelt, denn sie glaubt nicht an Zufäl­le, son­dern an die zu deu­ten­de Rät­sel­haf­tig­keit der Zei­chen, Bil­der und Wor­te. Auch in ande­ren Tex­ten, etwa in der Schöp­fungs­ge­schich­te “Von der Mut­ter­spra­che zur Sprach­mut­ter”, wird als poe­to­lo­gi­sche Selbst­aus­sa­ge der unschul­di­ge Blick, die Per­spek­ti­ve des Kin­des, die hier an den roman­ti­schen Mythos vom Kind anknüpft, mit dem Mythos von der Urmut­ter Eva und der Insze­nie­rung von Autor­schaft ver­bun­den. Die­sen kind­li­chen Blick auf die Welt und die Mög­lich­kei­ten der Aneig­nung in einer frem­den Spra­che als einer Wei­se der Selbst- und Welt­erkennt­nis demons­trie­ren auch die poe­ti­schen Zeug­nis­se aus dem Mund von Migran­ten­kin­der in dem Band Blu­me ist Kind von Wie­se oder deutsch ist mei­ne neue Zun­ge 30. Einen Akt ähn­li­cher eige­ner Welt­schöp­fung demons­triert das Wör­ter­buch­dorf, das “aus einem Wör­ter­buch” gebo­ren ist und pro­mi­nent auf blau­grau­en Sei­ten in der Mit­te des Ban­des Talis­man zwei­spra­chig abge­druckt ist und wie eine Ver­suchs­an­ord­nung die Schöp­fung durch enzy­klo­pä­di­sches Benen­nen durch­spielt: “Die Wör­ter, die aus dem Wör­ter­buch her­aus­stie­gen, ver­wan­del­ten sich in der Rei­hen­fol­ge ihres Erschei­nens in wirk­li­che Din­ge, und so eben ent­stand die­ses Dorf” 31. Das Eigen­le­ben der Wor­te, ihres Klan­ges, die Ethy­mo­lo­gien, die poe­ti­sche Geschich­te — und sei­ne Aus­wir­kung auf die Spre­chen­den, also jene, die mit ihrem Kör­per den Wor­ten Leben ein­hau­chen sind also das Arka­num. Die Zun­ge, die­ser meist ver­bor­ge­ne und für die phy­si­sche und kom­mu­ni­ka­tiv-psy­chi­sche so unver­zicht­ba­re Kör­per­teil, wird zur Ver­kör­pe­rung der Spra­che, die Gren­ze wird auf­ge­ho­ben bzw. in den Kör­per her­ein­ge­holt, so wie die Sprach­mut­ter Schreib­ma­schi­ne zur tech­ni­schen Erwei­te­rung des Kör­pers wird. Tawa­da führt über den poe­to­lo­gi­schen Auf­satz “Von der Mut­ter­spra­che zur Sprach­mut­ter” immer von neu­em vor, was Mut­ter und Kind gemein­sam ‘gott­gleich’ an magi­schen Sprach­spie­len der Selbst- und Welt­erkennt­nis durch- und vor­füh­ren kön­nen. Yoko Tawa­da illus­triert in “Rab­bi Löw und 27 Punk­te” 32 als Sprach­ma­gie einen kab­ba­lis­ti­schen Zugang zur Welt, zur Welt­erklä­rung. Die Kab­ba­la als Aus­le­gung der hei­li­gen Schrift liest die­se wie auch die Welt als Gan­zes als Offen­ba­rung Got­tes im Wort:
Die Spra­che wird vom Juden­tum als ein über das Dasein des Men­schen und der Welt hin­aus­grei­fen­des Gesche­hen erkannt. […] Der Schöp­fungs­akt Got­tes ist Spra­che, aber auch jeder geleb­te Augen­blick ist es. Die Welt wird dem sie wahr­neh­men­den Men­schen zuge­spro­chen und das Leben des Men­schen ist ein Zwie­ge­spräch. […] 33
Gers­hom Scholem zeigt, wie sich Kab­ba­la und Mythos ver­bin­den, wie sich durch die mys­ti­schen Erfah­run­gen, aus­ge­hend von den Büchern der Kab­ba­la, “eine neue Mythen­welt auf­ge­rich­tet” 34 hat, die auch Impul­se des Volks­glau­bens auf­nimmt und als “Urbil­der allen Seins” 35 betrach­tet. Für Tawa­da taucht dabei offen­sicht­lich kei­ne Dis­kre­panz zwi­schen mythi­scher und ratio­na­ler, kab­ba­lis­ti­scher und ani­mis­ti­scher Les­art der Welt auf, son­dern sie ver­bin­det in ihrem poe­tisch ‘tawa­da­ni­schen’ Zugang auf die frem­de Welt bei­des. 36 Die Kab­ba­la ver­eint Sprach­ma­gie und Sprach­mys­tik, indem Wort und Name als die bei­den Pole der kab­ba­lis­ti­schen Sprach­ma­gie auf­tre­ten. Die Magie ver­steht sich dabei auch als Spiel mit Mög­lich­kei­ten, als Ent­wurf von Wirk­lich­keit in der poe­ti­schen Spra­che, der durch eine ande­re magi­sche Sprach­hand­lung abge­löst wer­den kann. So bedeu­tet ‘das Kon­zept der ‘Sprach­ma­gie’, das die Spra­che als eine Macht betrach­tet wird, die wir nicht voll­kom­men unter Kon­trol­le haben” 37, jedoch heißt dies nicht, dass der Spre­cher die­ser Magie der Spra­che aus­ge­lie­fert ist oder unschul­dig an der Macht des von ihm selbst gebrauch­ten Wor­tes ist. Gera­de der ‘Ein­ge­weih­te’ weiß um die Ver­ant­wor­tung für Gesag­tes; dem­entspre­chend bewusst und abwä­gend setzt auch Yoko Tawa­da die ‘Zau­ber­wor­te’ ein, die ihr etwa die “Sprach­mut­ter” Schreib­ma­schi­ne ver­mit­telt. Wie es das Prin­zip der Kab­ba­la ist, dass sie “den Men­schen auf das Mys­te­ri­um auf­merk­sam [macht], das in ihm ist und ihn umgibt.” 38, so setzt Tawa­da Spra­che, Zun­ge und Blick ein, um das Ver­trau­te fremd und das Frem­de ver­traut zu machen. Tawa­da legt Sinn, Wor­te, Welt nicht tal­mu­dis­tisch aus, wie etwa Banoun im Hin­blick auf ihre Celan-Lek­tü­re dar­legt, son­dern viel­mehr kab­ba­lis­tisch, 39 denn es wird gera­de kein ver­bind­li­cher, sinn­stif­ten­der Text wie der Tal­mud ins Zen­trum der Welt­erfah­rung gestellt, über des­sen Aus­le­gung dis­ku­tiert wird, son­dern viel­mehr wird die Welt als ein Reich der Zei­chen gese­hen, die immer neu aus­ge­legt, in neu­en Zusam­men­hän­gen gele­sen wer­den müs­sen. 40 Die­se Form der Sprach­ma­gie in Ver­bin­dung mit jüdi­scher Mys­tik wur­de bereits von den Roman­ti­kern rezi­piert. 41 So hat Tawa­da zwar Vor­lie­ben für bestimm­te Autoren, unter ande­rem die Roman­ti­ker [^42], aber zen­tral ist auch, dass sie kei­ne Hier­ar­chie der Tex­te auf­stellt, wie dies der Tal­mud qua defi­ni­tio­nem macht, son­dern vor allem über­lie­fer­te Auto­ri­tä­ten wer­den hin­ter­fragt, ja dekon­stru­iert. Die Mehr­stim­mig­keit, in der das Ich, die Ich-Erzäh­le­rin, eine Stim­me unter meh­re­ren ist, ver­netzt den Text in sich und mit ande­ren Tex­ten. Zu Rab­bi Löws Golem und der Macht des Wor­tes, ja des Buch­sta­bens schreibt sie:
Es heißt dort [in einer Legen­de aus dem 17. Jahr­hun­dert], man kön­ne aus Lehm den Kör­per eines Golem her­stel­len. Wenn man dann auf sei­ne Stirn das Wort ‘eme­th’ (die Wahr­heit) schrei­be, wer­de der Golem leben­dig. Um ihm das Leben wie­der zu neh­men, müs­se man nur den ers­ten Buch­sta­ben des Wor­tes ent­fer­nen. Dann ent­ste­he das Wort ‘meth’ (tot) und der Golem fal­le sofort tot um. Mich inter­es­siert an der Legen­de vor allem die Vor­stel­lung von einem Leben, das aus Buch­sta­ben besteht. [^43]
Ein letz­tes Bei­spiel, wie Tawa­da Sprach­ma­gie, Fremd­heits­er­fah­rung und Mythos ver­bin­det, zeigt sich in Tawa­das Aus­ein­an­der­set­zung mit Ovid und dem Phä­no­men der Ver­wand­lung in dem Pro­sa­band Opi­um für Ovid. Ein Kopf­kis­sen­buch von 22 Frau­en [^44]. Der Titel legt auf den ers­ten Blick nahe, es mit ost-west­li­chen Frau­en­ge­schich­ten zu tun zu haben; doch bei der Lek­tü­re glaubt man manch­mal, der Titel soll­te eigent­lich “Ovid unter Opi­um” lau­ten, so wenig line­ar und ein­deu­tig erscheint das irri­tie­ren­de Netz­werk aus Anspie­lun­gen, intra- und inter­tex­tu­el­len, mythi­schen und lite­ra­ri­schen Ver­wei­sen, aus Figu­ren und Per­spek­ti­ven. Tawa­da schöpft hier aus zwei Tra­di­ti­ons­li­ni­en: inhalt­lich wer­den die Figu­ren mit den anti­ken, mythi­schen Erzäh­lung aus Ovids Meta­mor­pho­sen ver­bun­den: eine kon­kre­te “Arbeit am Mythos”. Alle 22 titel­ge­ben­den Figu­ren der Kapi­tel sind Frau­en aus den Meta­mor­pho­sen, Göt­tin­nen, Nym­phen, Misch­we­sen, bekann­te und weit­ge­hend unbe­kann­te. Der Unter­ti­tel ver­weist auf die sub­jek­ti­ve, asso­zia­ti­ve Form der Erzäh­lun­gen mit Bezug auf eines der kano­ni­schen Wer­ke japa­ni­scher Lite­ra­tur: Das Kopf­kis­sen­buch der Hof­da­me Sei Sho­na­gon (ca. 1000 n. Chr.), das schon als kano­ni­scher Text des Beob­ach­tens, Sam­melns und Ord­nens genannt wur­de. Opi­um scheint der Welt des Ostens, des Ori­ents, der rausch­haf­ten Ver­stel­lung ratio­na­ler Welt­sicht, der süch­ti­gen Ver­sun­ken­heit in eine Traum­welt ent­nom­men zu sein, doch gilt es die­se ers­te Kate­go­ri­sie­rung zu ent­lar­ven, denn zum einen wur­de das Opi­um als Sucht- und Rausch­mit­tel von den west­li­chen Kolo­ni­sa­to­ren nach Chi­na impor­tiert und dort gegen den Wil­len der chi­ne­si­schen Regie­rung ver­brei­tet, um das Reich der Mit­te erfolg­reich zu schwä­chen und das west­li­che Han­dels­de­fi­zit aus­zu­glei­chen; zum ande­ren weist Tawa­das Ich-Erzäh­le­rin in der Erzäh­lung Daph­ne auf eine ihrer Quel­len hin, in denen sich das Rausch­gift Opi­um als Meta­pher ver­selb­stän­digt hat:
Eines Tage blät­ter­te ich in sei­nen [Karl Marx ] Schrif­ten, ohne sie wirk­lich zu lesen. Es war schon dun­kel drau­ßen, und die lis­tig leuch­ten­den Buch­sei­ten zogen immer wie­der neue Mücken an. Eine der Mücken ver­schwand zwi­schen den Buch­sta­ben. In dem Moment flog mir der Satz ins Auge: “Reli­gi­on ist Opi­um für das Volk”. War­um war ich nicht frü­her schon dar­auf gekom­men, die Sub­stanz als Mate­rie zu ver­ste­hen. (S. 27)
Wort­spie­le­risch wer­den Buch­sta­ben und Insek­ten als schwar­ze Zei­chen auf wei­ßem Grund ver­mischt, fliegt ein Satz, nicht eine Mücke ins Auge, leuch­ten die Buch­sei­ten magisch, als könn­ten sie Erleuch­tung brin­gen und wer­den zugleich degra­diert zur Mücken anzie­hen­den Leucht­quel­le, wobei sich die Mücken dann wie­der in Buch­sta­ben ver­wan­deln und ein Eigen­le­ben zu füh­ren schei­nen. [^45] Im fol­gen­den Absatz hal­lu­zi­niert die Erzäh­le­rin ein Bild von Reli­gi­on, in dem das Fleisch eines Hei­li­gen ver­zehrt wird. Die Brü­cke wird am Schluss wie­der geschla­gen, indem die­se reli­gi­ös besetz­te Gabe des Bro­tes als Leib Chris­ti mit einem wei­te­ren Zitat von Marx über das Wesen von Brot als Nah­rungs­mit­tel und Ware ver­bun­den wird, so dass sich im kon­kre­ten Objekt Brot für die Erzäh­le­rin das über­ra­schen­de, Dis­kurs über­schrei­ten­de Poten­ti­al eines im All­tag so ver­trau­ten Gegen­stan­des eröff­net. Exem­pla­risch sei die sub­ti­le Neu­er­zäh­lung, die Inver­si­on und Aktua­li­sie­rung der Mythen anhand der ers­ten Erzäh­lung “Leda” [^46] auf­ge­zeigt. Leda ist im Mythos eine der Gelieb­ten des Zeus, der sich, um sie zu lie­ben, in einen Schwan ver­wan­delt hat, wäh­rend sie die Gestalt einer Gans ange­nom­men haben soll. Sie ist sowohl die Mut­ter berühm­ter Sterb­li­cher, wie Kas­tor und Klytäm­nes­tra, als auch Unsterb­li­cher, wie der schö­nen Hele­na oder Poly­deu­kes (Pol­lux). In Tawa­das irri­tie­rend bruch­stück­haf­ter Erzäh­lung ist Leda eine Frau mit gelähm­ten Armen, die zu Beginn in eine Bade­wan­ne steigt, “viel­leicht saß sie im Was­ser mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln, die kraft­los an den Rän­dern der Bade­wan­ne anla­gen. Mit dem Schna­bel rei­nig­te sie die was­ser­dich­ten, creme­wei­ßen Federn. Die Tür des Bade­zim­mers war von innen abge­schlos­sen” (S. 9). Auch hier taucht als Prot­ago­nis­tin wie­der ein selt­sa­mes poe­ti­sches Zwit­ter­we­sen auf, halb Vogel, halb Mensch, halb Wasser‑, halb Land­we­sen, das sich in die­ser Welt nicht hei­misch fühlt und — distan­ziert beschrie­ben — von einer namen­lo­sen Ich-Erzäh­le­rin beob­ach­tet wird, die dann wie­der­um ihre Per­spek­ti­ve teilt, etwa wenn sich “das Holz­mus­ter des Bodens […] sich in das Kräu­seln von Wel­len” ver­wan­delt (S. 11). Ledas Lei­den­schaft gilt Schall­plat­ten, denen sie sich so nah fühlt, dass ihr Kör­per deren Form imi­tiert. so heißt es z.B. “Man hat das Gefühl, an jeder Stel­le ihre Kör­pers eine Öff­nung fin­den zu kön­nen, durch die man einen ande­ren Raum betre­ten kann” (S. 10). Dar­in spie­gelt sich das kreis­för­mi­ge Erzäh­len die­ses Tex­tes, wie sich die Nadel auf der Schall­plat­te bewegt, und dies wird zur Meta­pher für Ledas Welt­ent­frem­dung, die sich auch im Leit­mo­tiv der Far­be Weiß spie­gelt, die am Ende in der Rück­kehr “zu dem Null­punkt” (S. 17), dem Mit­tel­punkt der Schall­plat­te wie des Lebens, also in den Tod mün­det, ver­mit­telt über ein rezept­frei zu erhal­ten­des wei­ßes Pul­ver. Die ver­schie­de­nen Rol­len, als Freun­din, als Mut­ter, als alte und als jun­ge Frau, als Kunst­lieb­ha­be­rin und als Kran­ke wer­den von Leda immer nur stück­wei­se, unvoll­stän­dig aus­ge­füllt, nie ist sie ‘ganz’ da, son­dern wirkt wie eine Pro­jek­ti­on, die das Motiv der Täu­schung, der wan­del­ba­ren Gestalt aus Ovids Meta­mor­pho­sen anschau­lich macht. Kei­ner der all­täg­li­chen Lebens­räu­me, sei es der Fisch­markt, die Woh­nung, der War­te­saal, ent­spricht ihrem Wesen, so dass Leda als eine Frem­de, wie ein mythi­sches Relikt, wie eine Phan­tas­ma­go­rie durch den Text irrt: ein Fas­zi­no­sum, eine viel­deu­ti­ge, wan­del­ba­re Frau­en­ge­stalt aus abend­län­di­schen Mär­chen und Mythen von Frau­en, die sich in wei­ße Vögel, in Schwä­ne ver­wan­deln, sich jeder Ver­ein­nah­mung ent­zie­hen kann, aber zugleich mit ihren (engel­haf­ten) Flü­geln im mensch­li­chen Lebens­raum kaum lebens­fä­hig scheint. Tawa­da prak­ti­ziert einen poe­tisch syn­kre­tis­ti­schen Umgang mit Mythen, die sie in eine beson­de­re Art des Sprach­spiels ein­bet­tet, und lässt damit die Leser an ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit exis­ten­ti­el­ler Fremd­heits­er­fah­rung teil­neh­men. Sie erzählt in einem mehr­fa­chen Sin­ne ellip­tisch, indem sie ihre The­men mul­ti­per­spek­ti­visch umkreist, neue Vari­an­ten des Mythos erfin­det, sich unter­bricht, den Faden spä­ter wie­der auf­nimmt, Moti­ve vari­iert. Außer­dem ist ihr Erzäh­len auf selbst­re­fle­xi­ve Wei­se ellip­tisch, indem sie ‘Lücken’ auf­spürt, die Leer­stel­len an der Gren­ze, im Über­gang beob­ach­tet und selbst die­se Leer­stel­len in den Mit­tel­punkt stellt, so bei der Fahrt durch die Tun­nel, durch den Kör­per der Land­schaft, oder in der Behin­de­rung der Vogel­frau. Dadurch zeigt ihr Werk trotz der so häu­fig auf­tre­ten­den Ich-Erzäh­le­rin eine ver­füh­re­ri­sche Viel­stim­mig­keit und Per­spek­ti­ven­viel­falt, eine inten­tio­nal auf­ge­la­de­ne Mehr­stim­mig­keit und anspie­lungs­rei­che Ver­netzt­heit der Mythen, Erfah­run­gen und nicht zuletzt inter­tex­tu­el­len Anspie­lun­gen. Tawa­da über­schrei­tet die Defi­ni­ti­on von Mythen als Erzäh­lun­gen im enge­ren Sin­ne und geht — der Mythen­theo­rie fol­gend — eigent­lich ‘hin­ter’ den Mythos zurück, in dem sie die Magie zu einer neu­en poe­to­lo­gi­schen Kraft wer­den lässt: sie schreibt gewis­ser­ma­ßen ‘wäss­rig’, um als poe­to­lo­gi­sche Meta­pher eines ihrer zen­tra­len Moti­ve auf­zu­ru­fen, denn wie das Was­ser zei­gen ihre Figu­ren kei­ne fes­te Form; ihr Den­ken und ihre Kör­per wan­deln sich per­ma­nent — und behal­ten doch einen Kern von Iden­ti­tät, ihr Wesen, ihren urei­ge­nen Klang. In ihren poe­ti­schen Essays und essay­is­tisch reflek­tie­ren­den Erzäh­lun­gen zeigt sie, wie man die Spra­che wört­lich wahr­nimmt und öff­net so gera­de dem Leser/der Lese­rin in seiner/ihrer Mut­ter­spra­che die Augen für neue Zusam­men­hän­ge, Bedeu­tun­gen und Sinn­ver­flech­tun­gen, die im Wort selbst ver­wur­zelt, ver­bor­gen, ver­schlüs­selt lie­gen. Die Spra­che erhält somit eine eige­ne Macht, ja sie wird selbst zu einer ‘Gebär­mut­ter’ für Wör­ter, so dass in ihrem pro­mi­nen­ten Text “Von der Mut­ter­spra­che zur Sprach­mut­ter” die Gren­zen zwi­schen der Schreib­ma­schi­ne, dem ‘Kör­per’ der Wor­te, und dem aukt­oria­len Kör­per ver­schwin­den, denn “es gibt sogar Wör­ter, die so leben­dig sind, dass sie wie mythi­sche [!] Figu­ren ihre eige­ne Lebens­ge­schich­te ent­wi­ckeln kön­nen.” [^47]: Die Erzäh­le­rin arbei­tet hier mit Ana­lo­gien, um einer­seits Ver­trau­tes, die Mut­ter­spra­che, zu ‘ent­frem­den’, ande­rer­seits ihren ori­gi­nel­len, befremd­li­chen Zugang ver­traut zu machen: Kör­per und Maschi­ne, Wör­ter und Lebe­we­sen, Sprach­er­werb und Kind­heit wer­den nicht nur meta­pho­risch, son­dern als poe­to­lo­gi­sches Prin­zip gleich­ge­setzt. Tawa­da geht damit post­mo­dern hin­ter eine Moder­ne zurück, die neue Ver­bind­lich­kei­ten der Welt­erklä­rung ’set­zen’ zu kön­nen glaub­te; sie glaubt nicht mehr dar­an, dass sich die Welt ver­bind­lich oder ein- bis drei­di­men­sio­nal ord­nen lässt. Die Wor­te, mit denen sich ihre Dich­tung cha­rak­te­ri­sie­ren lässt, sind nicht in Gegen­sät­zen von­ein­an­der abzu­gren­zen, son­dern zei­gen selbst flie­ßen­de Über­gän­ge, denn alle die­se Ord­nun­gen sind Mög­lich­kei­ten der Welt­erfah­rung, aber kei­ne ver­bind­li­chen Denk­sys­te­me. So mischen sich Traum und Beob­ach­tung, Hei­ter­keit, Iro­nie und Sati­re, Magie, Meta­phern und Met­ony­mi­en, Sprach­spiel und Refle­xi­on, Doku­men­ta­ti­on und Deu­tung, Selbst- und Fremd­bild, Mythos und All­tag, Ost und West. All dies sind kei­ne Gegen­sät­ze mehr, son­dern ein­an­der ergän­zen­de Sprach­schöp­fun­gen, die Yoko Tawa­da als Zei­chen­deu­te­rin den Lesern mit­teilt und die­se so auch zu Spu­ren­le­sern und Zei­chen­deu­tern wer­den lässt, die nicht nur Anspie­lun­gen ent­schlüs­seln, son­dern auch an dem Arka­num der Poe­sie teilhaben. 

  1. Bern­hard Wal­den­fels: Topo­gra­phie des Frem­den. Stu­di­en zur Phä­no­me­no­lo­gie des Frem­den 1. Frank­furt a.M. 1997, S. 33. 
  2. Yoko Tawa­da: Das Tor des Über­set­zers oder Celan liest Japa­nisch. In: Dies.: Talis­man, Tübin­gen 1996, S. 121–134, hier S. 123. 
  3. Yoko Tawa­da: Über das Holz. In: Dies.: Talis­man, Tübin­gen 1996, S. 135–139, hier S. 135. 
  4. Bern­hard Wal­den­fels: Viel­stim­mig­keit der Rede. Stu­di­en zur Phä­no­me­no­lo­gie des Frem­den 4, Frank­furt a.M. 1999, S.128. 
  5. Vgl. die phi­lo­so­phi­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit den Begrif­fen von Ich und Ande­rer, die sowohl Huss­erl als auch Gada­mer ver­wen­den, so Edda Kapsch: Ver­ste­hen des Ande­ren. Fremd­ver­ste­hen im Anschluss an Huss­erl, Gada­mer und Der­ri­da. Ber­lin 2007. Nach Emma­nu­el­le Lévi­n­as wird erst durch die Begeg­nung mit dem Ande­ren, der abso­lut anders ist, das Ego ermög­licht, dass damit einem Alter Ego begeg­net, so in Jen­seits des Seins oder anders als Sein geschieht, Frei­burg, Mün­chen 1992. Die Über­gän­ge zwi­schen der Erfah­rung des Ande­ren und des Frem­den sind jen­seits spe­zi­fi­scher phi­lo­so­phi­scher Sys­te­ma­ti­ken offen­sicht­lich flie­ßend. Anders­heit kann sich in Dicho­to­mien aus­drü­cken, die die kate­go­ria­len Unter­schie­de zwar ord­nen, aber nicht über­brü­cken; in der Erfah­rung des Indi­vi­du­ums kön­nen sich daher auch Mann und Frau, Ost und West, Alt und Jung als ‘Frem­de’ gegen­über­ste­hen. Vgl. auch Julia Kris­t­e­va: Frem­de sind wir uns selbst. Frank­furt a.M. 1990. 
  6. Vgl. mei­nen Auf­satz: Fremd­heit und Aneig­nung als poe­to­lo­gi­sche Stra­te­gien im Werk Yoko Tawa­das und Hisa­ko Mat­sub­aras: Zwi­schen doku­men­ta­ri­scher Beob­ach­tung und mythi­schem Erzäh­len. In: Jean-Pierre Chassa­gne, Blan­di­ne Cha­puis (Hgg.): Etran­ge­te des for­mes, For­mes de L’etran­ge­te — Fremd­heit der For­men, For­men der Fremd­heit (in Vor­be­rei­tung für 2011). 
  7. Yoko Tawa­da: Von der Mut­ter­spra­che zur Sprach­mut­ter. In: Dies.: Talis­man. Tüin­gen 1996, S. 9–15, hier S.11. 
  8. Jor­ge Luis Bor­ges: Die ana­ly­ti­sche Spra­che von John Wil­kins, in: Ders.: Das Eine und die Vie­len. Essays zur Lite­ra­tur. Mün­chen 1966, S. 209–214, hier S. 212. Vgl. auch die Samm­lung von “ken­nin­gar” — Meta­phern für Kör­per­tei­le, Din­ge, Tie­re der islän­di­schen Dich­tung in dem Auf­satz “Die Ken­nin­gar”, S.17–34. 
  9. Das Kopf­kis­sen­buch der Hof­da­me Sei Sho­na­gon, Zürich 1997, S. 225 und 235. 
  10. Hans Blu­men­berg: Arbeit am Mythos, Frank­furt a.M. 1996, S. 21. 
  11. Vgl. Ernst Cas­si­rer: Phi­lo­so­phie der sym­bo­li­schen Form. Bd. 2 Das mythi­sche Den­ken, Darm­stadt 91994. 
  12. Vgl. ebd. 
  13. Hans Blu­men­berg: Arbeit am Mythos, Frank­furt a.M. 1996, S. 424. 
  14. Ebd., S. 11. 
  15. Vgl. Alei­da Ass­mann: Zur Meta­pho­rik der Erin­ne­rung, in: Dies. und Harth Diet­rich (Hrsg.): Mne­mo­sy­ne. For­men und Funk­tio­nen der kul­tu­rel­len Erin­ne­rung, Frank­furt a.M., Fischer, 1991, S. 13–35. Vgl. auch Micha­el Land­mann “Tout finit par des Chan­sons”. Die Kunst als Bewah­re­rin von Magie und Mythos. In: Phil­ipp Wolff-Wind­egg (Hrsg.): Mythi­sche Ent­wür­fe. Stutt­gart 1975, S. 109–124 hier S. 117; er sieht “die Kunst als Bewah­re­rin von Magie und Mythos”, die einer mythi­schen Welt­sicht Aus­druck ver­lei­hen kann und “wie die Kunst die Magie unbe­wußt als for­ma­les Moment wei­ter trägt, so den Mythos als bewuß­ten Gehalt” in all sei­ner Rät­sel­haf­tig­keit und Viel­deu­tig­keit leben­dig hält. 
  16. Jean-Pierre Ver­nant: Der reflek­tier­te Mythos. In: Mythos ohne Illu­si­on mit Bei­trä­gen von Jean-Pierre Ver­nant, Mar­cel Deti­en­ne, Pierre Smith, Jean Pouil­lon, André Green und Clau­de Lévi-Strauss. Aus dem Fran­zö­si­schen von Ulri­ke Bokel­mann. Frank­furt a. M. 1984, S. 7–11, hier S. 10. 
  17. Yoko Tawa­da: Die zwei­te Vor­le­sung: Schrift einer Schild­krö­te oder das Pro­blem der Über­set­zung. In: Dies.: Ver­wand­lun­gen. Tübin­ger Poe­tik-Vor­le­sun­gen. Tübin­gen 1998, S. 23–40. Im Fol­gen­den wei­se ich die Zita­te im Text nach. 
  18. Yoko Tawa­da: Im Bauch des Gott­hards. In: Dies.: Talis­man. Tübin­gen 1996, S. 93–99, S. 93 und S. 98. 
  19. Vgl. die Inter­pre­ta­ti­on die­ser Stel­le von Sabi­ne Fischer: Durch die japa­ni­sche Bril­le gese­hen: Die fik­ti­ve Eth­no­lo­gie der Yoko Tawa­da. In: Gegen­warts­li­te­ra­tur. Ein ger­ma­nis­ti­sches Jahr­buch, 2/2003, S. 59–80. 
  20. Ruth Neu­bau­er-Pet­zoldt: Von Bräu­ten, Holun­der­bäu­men und Hie­ro­gly­phen. Mythos, Ritu­al und Raum in der Roman­tik. In: Auro­ra: Jahr­buch der Eichen­dorff-Gesell­schaft, Bd. 68/69, 2008/2009, S.137–156. 
  21. Bern­hard Wal­den­fels: Viel­stim­mig­keit der Rede. Stu­di­en zur Phä­no­me­no­lo­gie des Frem­den 4, Frank­furt a. M. 1999, S. 143. 
  22. Yoko Tawa­da: Das Bad. Aus dem Japa­ni­schen von Peter Pört­ner. Tübin­gen 31993. Im Fol­gen­den zitie­re ich im Text nach Kapi­teln, da das Werk nicht pagi­niert ist. 
  23. Vgl. Ans­gar Nün­ning (Hrsg.): Unre­lia­ble Nar­ra­ti­on. Stu­di­en zur Theo­rie und Pra­xis unglaub­wür­di­gen Erzäh­lens in der eng­lisch­spra­chi­gen Erzähl­li­te­ra­tur. Trier 1998. Der Ein­be­zug von Traum­se­quen­zen und Geis­ter­er­schei­nun­gen sowie schein­bar zuver­läs­si­ger Erzäh­ler­kom­men­ta­re ist typisch für den unre­lia­ble nar­ra­tor, so dass sich Tawa­da damit in eine Tra­di­ti­on ent­spre­chen­der Tex­te berühm­ter Ich-Erzäh­ler ein­reiht, etwa Tri­st­ram Shan­dy von Law­rence Ster­ne oder Die Blech­trom­mel von Gün­ter Grass. 
  24. Wal­ter Hils­be­cher: Apo­lo­gie des Nar­ziß. In: Ders.: Wie modern ist eine Lite­ra­tur” Auf­sät­ze. Mün­chen 1965, S. 66–92, hier S. 67. Vgl. zum Mythos Nar­ziß den gehalt­vol­len Auf­satz von Micha? G?owi?ski: Nar­ziß und sei­ne Spie­gel­bil­der. In: Ders.: Mythen in Ver­klei­dung. Dio­ny­sos, Nar­ziß, Pro­me­theus, Marcho?t, Laby­rinth. Frank­furt a.M. 2005, S. 75–110, sowie Almut-Bar­ba­ra Ren­ger (Hrsg.): Mythos Nar­ziß. Tex­te von Ovid bis Jac­ques Lacan. Leip­zig 1999. 
  25. Fried­mann Har­zer: Erzähl­te Ver­wand­lung. Eine Poe­tik epi­scher Meta­mor­pho­sen (Ovid — Kaf­ka — Rans­may­er). Tübin­gen 2000, S. 44f.; inner­halb die­ses Zitats wird Hans Blu­men­berg: Arbeit am Mythos. Frank­furt a.M. 1996 S. 99 zitiert. 
  26. Vgl. Fried­mann Har­zer: Erzähl­te Ver­wand­lung. Eine Poe­tik epi­scher Meta­mor­pho­sen (Ovid — Kaf­ka — Rans­may­er). Tübin­gen 2000, S. 27f. 
  27. Vgl. zum Melu­si­nen- und Undi­nen-Mythos Ruth Neu­bau­er-Pet­zoldt: Grenz­gän­ge der Lie­be: Undi­ne geht. In: Mathi­as May­er (Hg.), Wer­ke von Inge­borg Bach­mann, Stutt­gart 2002, S.156–175. Vgl. zum Ein­fluss von Schlan­gen­frau­en aus ande­ren Kul­tur­krei­sen den Kom­men­tar zum Volks­buch der Melu­si­ne in: Jan-Dirk Mül­ler (Hrsg.): Roma­ne des 15. und 16. Jahr­hun­derts. Nach den Erst­dru­cken mit Kom­men­tar und Ein­füh­rung. Frank­furt 1990, S. 1023; hier ist auch die Melu­si­ne des Thü­ring von Rin­gol­tin­gen abge­druckt. 
  28. Bei­spiels­wei­se in Bir­git Van­der­be­ke: Geld oder Leben. Frank­furt a. M. 2003. 
  29. Tawa­da hat sich immer wie­der mit Paul Celan und sei­ner Dich­tung beschäf­tigt, stell­ver­tre­tend sei ihr Auf­satz genannt: Die Kro­ne aus Gras. Zu Paul Cel­ans “Die Nie­mands­ro­se”. In: Dies.: Sprach­po­li­zei und Spiel­po­ly­glot­te. Tübin­gen 2007, S. 63–84. 
  30. Hel­ga Glant­sch­nigg: Blu­me ist Kind von Wie­se oder deutsch ist mei­ne neue Zun­ge. Frei­burg 1996. 
  31. Yoko Tawa­da: Talis­man. Tübin­gen 1996, S. 63–80, hier S. 65, Ori­gi­nal auf Japa­nisch, über­setzt von Peter Pört­ner 
  32. Yoko Tawa­da, Rab­bi Löw und 27 Punk­te. In: Dies. Sprach­po­li­zei und Spiel­p­ly­glot­te. Tübin­gen 2007, S.38–44. 
  33. Mar­tin Buber: Der Glau­be des Juden­tums. In: Shalem Ben Cho­rin, Vere­na Len­zen (Hrsg.): Lust an der Erkennt­nis. Jüdi­sche Theo­lo­gie im 20. Jahr­hun­dert. Mün­chen 1988, S.149f. 
  34. Gers­hom Sholem: Kab­ba­la und Sym­bo­lik. Zürich 1960, S. 133. 
  35. Ebd., S. 135. 
  36. Vgl. Johan­na Junk: Meta­pher und Sprach­ma­gie. Heid­eg­ger und die Kab­ba­la. Eine phi­lo­so­phi­sche Unter­su­chung. Boden­heim 1998, S. 52: ‘Daß die Meta­pher mit der Kon­struk­ti­on von Ähn­lich­keit, mit Ana­lo­gie­bil­dung zu tun hat, dass es sich bei den ‘meta­pho­ri­schen Aus­sa­gen’ nicht um Behaup­tun­gen, son­dern um ‘Bil­der’ oder ‘Blick­win­kel’, Per­spek­ti­ven han­delt, und dass sol­che bild­schaf­fen­de Gebrauchs­wei­se der Spra­che womög­lich in Kon­flikt gerät mit der bewei­sen­den, begrün­den­den, ‘ratio­na­len’ Rede, ist bereits bei anti­ken Autoren nach­zu­le­sen.” 
  37. Ebd., S. 224. 
  38. Alex­and­re Safran: Die Weis­heit der Kab­ba­la. Bern, Stutt­gart 1988, S. 63. 
  39. Vgl. Lin­da Koiran: Schrei­ben in frem­der Spra­che. Yoko Tawa­da und Gal­san Tschi­nag. Stu­di­en zu den deutsch­spra­chi­gen Wer­ken von Autoren asia­ti­scher Her­kunft. Mün­chen 2009, S. 291; vgl. Ber­nard Banoun: Des mots et des raci­n­es: La per­te du fami­lier dans l’œ­v­re de Yoko Tawa­da. In: Actes du con­grès de l’ A.G.E.S. 2001. In: Bul­le­tin de l’ A.G.E.S., 2003, S. 5–17. Vgl. Jür­gen Wert­hei­mer im Nach­wort zu Tawa­das Poe­tik­vor­le­sun­gen Ver­wand­lun­gen (Tübin­gen 1998, S. 61–62). 
  40. Vgl. Roland Bar­thes: Das Reich der Zei­chen. Frank­furt a.M. 1981 (L’em­pire des signes, 1970) über Japan. 
  41. Vgl. Kab­ba­la und Roman­tik. Die jüdi­sche Mys­tik in der roman­ti­schen Geis­tes­ge­schich­te. Hrsg. v. Eve­lin 

Ruth Neu­bau­er-Pet­zoldt stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und Kunst­ge­schich­te an den Uni­ver­si­tä­ten Regens­burg, Karls­ru­he und Los Ange­les (UCLA). 1998 wur­de sie mit ihrer Arbeit Albern­heit mit Hin­ter­sinn: Inter­tex­tu­el­le Spie­le in Lud­wig Tiecks roman­ti­schen Komö­di­en an der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen pro­mo­viert. Ihr Habi­li­ta­ti­ons­pro­jekt „Von ver­bo­te­ner Neu­gier und grenz­über­schrei­ten­dem Wis­sen. Blau­bart als Daseins­me­ta­pher und neu­er Mythos“ an der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg steht kurz vor dem Abschluss.