Inseln versenken

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Die blaue Nacht in Nürn­berg dient nicht allein der Unter­hal­tung, son­dern fun­giert stets auch als Platt­form für zeit­ge­nös­si­sche Kunst. Wie die Jah­re zuvor, fand auch dies­mal im Vor­feld ein Kunst­wett­be­werb statt, der Schaf­fen­den aus dem In- und Aus­land die Mög­lich­keit gab, ihre Pro­jek­te vor­zu­stel­len. Aus hun­dert Bei­trä­gen wur­den zwölf Performance‑, Lichtkunst‑, Musik- und Thea­ter­pro­jek­te aus­ge­wählt, denen die Rea­li­sie­rung im beson­de­ren Rah­men die­ses Gro­ße­vents ermög­licht wur­de. An ?kunst­frem­den” Orten wie den Innen­hö­fen von Gewerk­schafts­häu­sern und Arbeits­äm­tern, an Stra­ßen­ecken und ande­ren unge­wöhn­li­chen Plät­zen stell­ten die jun­gen Künst­ler ihre Kon­zep­tio­nen vor, die sich alle um das The­ma ?Insel” dreh­ten, das Mot­to, unter dem die blaue Nacht die­ses Jahr stand. Das Künst­ler­duo Marc Wes­ter­mann und Jörg Rost, hat­te sich für ihre Per­for­mance ?Inseln ver­sen­ken”, das ers­te Mal zusam­men­ge­tan. Ihnen wur­de ein beson­ders geschichts­träch­ti­ger Ort für die Umset­zung zuge­wie­sen — der alte Rat­haus­saal. Die bei­den Künst­ler aus Schwer­te setz­ten sich auf zwei Sta­pel Papier und zer­knüll­ten die­se, Blatt für Blatt, im Ver­lauf meh­re­rer Stun­den. Die mit fluo­res­zie­ren­der Far­be bedruck­ten Blät­ter bil­de­ten die Inseln der Agie­ren­den, wel­che sich somit, lang­sam aber sicher, durch ihr Tun den ?Boden unter den Füßen weg­zo­gen”. Das zer­knüll­te Papier bil­de­te auf dem Fuß­bo­den neue Inseln, die durch das Publi­kum und einen Stra­ßen­keh­rer in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen gesto­ßen wur­den. Als Kom­men­tar zur Rat- und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit der Gesell­schaft gedacht, wur­de hier­bei durch rei­nes, refle­xi­ons­frei­es Tun der Mensch in sei­nem gegen­wär­ti­gen Hand­lungs­spiel­raum cha­rak­te­ri­siert. Durch die bewusst offe­ne Gestal­tung erlaub­te die Per­for­mance dem Publi­kum, selbst aktiv zu wer­den und einen Bei­trag zu leis­ten, des­sen Form und Ver­lauf nicht vor­her­be­stimmt wer­den konn­te. Nicht als Maler, Bild­hau­er oder Per­for­mance­künst­ler wol­len Marc Wes­ter­mann und Jörg Rost gese­hen wer­den, son­dern als Men­schen, die sich mit den Zei­chen der Zeit beschäf­ti­gen. Sie rich­ten ihre Auf­merk­sam­keit auf die Gesell­schaft und ver­su­chen die Pro­blem­stel­lun­gen nach­zu­voll­zie­hen, die für unse­re Zeit sym­pto­ma­tisch sind. Ihr Anlie­gen ist es, die Zusam­men­hang­lo­sig­keit der Lebens­be­rei­che, wel­che die hoch ent­wi­ckel­te abend­län­di­sche Kul­tur aus­zeich­net, zu erschlie­ßen, weil das kom­ple­xe Gefü­ge der Gegen­wart durch die Wis­sens­dis­zi­pli­nen wie die Phi­lo­so­phie, die nicht eigen­stän­dig krea­tiv ist, nur noch unzu­rei­chend zu fas­sen ist. Ein­zig die Kunst, so meint Wes­ter­mann, ver­mag die ein­zel­nen Lebens­di­men­sio­nen, erwei­ternd und gleich­zei­tig reflek­tie­rend, zu erschlie­ßen. Ohne einen pro­gram­ma­ti­schen Wil­len fun­giert sie so als ?Gesell­schafts­po­li­zei” oder ?Ideen­pa­pa­raz­zi, indem sie aktu­el­len Ent­wick­lun­gen nach­spürt. Um zur Wir­kung zu gelan­gen, muss sie den Betrach­ter jedoch berüh­ren, ihn bewe­gen kön­nen. Nur wenn der Besu­cher auf die Kunst reagiert, lässt sich sein der­zei­ti­ger gesell­schaft­li­cher Stand­punkt erfah­ren. Der Künst­ler ist somit, wenn er ein Kunst­werk nach die­ser Defi­ni­ti­on schaf­fen will, ver­pflich­tet, sich mit den Seh­ge­wohn­hei­ten und der Auf­fas­sungs­ga­be sei­nes Publi­kums zu beschäf­ti­gen. Wie der Mensch auf eine unge­wohn­te Umge­bung reagiert, wie er sich den Raum, den er in einem ande­ren Kon­text als dem gewohn­ten vor­fin­det, aneig­net oder nicht, sind somit die Fra­ge­stel­lun­gen, wel­che Rost und Wes­ter­mann beschäf­ti­gen. Erfolg­reich bra­chen sie an die­sem Abend im Rah­men ihrer Per­for­mance mit den übli­chen Kon­ven­tio­nen, die das Ver­hält­nis von Künst­ler und Publi­kum nor­ma­ler­wei­se bestim­men.
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Quellen

 

Erlebnisbericht

19.00 Der Rat­haus­saal liegt im Däm­mer­licht und die blaue Nacht beherrscht Nürn­berg. Bis auf zwei Papier­sta­pel, die in der Mit­te des schie­fer­grau­en Bodens ste­hen, ist der Saal leer. Mit locke­ren Schrit­ten betre­ten die bei­den schwarz geklei­de­ten Per­for­mance­künst­ler Marc Wes­ter­mann und Jörg Rost den Raum und neh­men auf den Sta­peln Platz. Einen Teil des Papiers legen sie zu ihren Füßen und fan­gen an, das Papier, Blatt für Blatt, in einem ste­ten Rhyth­mus zu zer­knül­len. Die ent­ste­hen­den Papier­bäl­le ver­tei­len sie gleich­mä­ßig im Raum. Durch die Abend­son­ne, die dem Papier einen schrä­gen Schat­ten ver­leiht, wird dem will­kür­li­chen Arran­ge­ment der Anschein eines Mus­ters gege­ben. Die ambi­va­len­te Ges­te des Knül­lens, die zum einen das Schei­tern aus­drückt, das Ver­wer­fen einer Idee, lässt ande­rer­seits aus jedem Blatt Papier ein neu­es Objekt ent­ste­hen. Die Zuschau­er set­zen sich auf die Bän­ke, die rings den Saal umzie­hen und lau­schen dem fast medi­ta­tiv anmu­ten­den Geräusch des Raschelns, das die Stil­le durch­dringt. Gegen Ende jeder Stun­de ver­las­sen die Künst­ler den Raum. An ihre Stel­le tritt ein oran­ge geklei­de­ter Stra­ßen­keh­rer, der die Hau­fen neu for­miert. 21.00 Lang­sam ver­än­dert sich das Licht. Wäh­rend es drau­ßen dunk­ler wird, geht das Licht im Saal mehr und mehr vom Papier selbst aus, auf das, wie jetzt erkenn­bar wird, eine Wind­ro­se mit fluo­res­zie­ren­den Far­ben gedruckt ist, die im Schein des Schwarz­lichts zu leuch­ten beginnt. Durch ihre dunk­le Gewan­dung ver­schwin­den die Künst­ler und wer­den zu düs­te­ren Schat­ten. Nur ihre Hän­de leuch­ten gelb­grün, weil die Druck­far­be an ihnen haf­ten bleibt. So zeich­nen sich ihre dunk­len Sil­hou­et­ten gegen den mitt­ler­wei­le fast gänz­lich bedeck­ten Boden ab, der in sei­ner Unbe­rührt­heit an eine Schnee­de­cke erin­nert. Es hat einen gera­de­zu unheim­li­chen Effekt, wenn die leuch­ten­den Hän­de mit gleich­blei­ben­dem Rhyth­mus das Papier in einem mono­to­nen Takt zer­knül­len. Immer öfter klau­en die Zuschau­er die ein­zel­nen Papier­knäu­el und fal­ten sie auf, um die Wind­ro­se zu betrach­ten. Auch Kin­der sind im Saal, die irgend­wann anfan­gen, sich mit den Bäl­len zu bewer­fen und mit aus­ge­brei­te­ten Armen durch die leuch­ten­den Hau­fen zu lau­fen. Die Ruhe löst sich auf und in der auf­kei­men­den Aus­ge­las­sen­heit ver­su­chen die Besu­cher, einen der Künst­ler unter dem Papier­berg zu begra­ben. Die Zuschau­er sind zu einem Publi­kum gewor­den und die Per­for­mance zu einem Hap­pe­ning. Eine Grup­pe Jugend­li­cher baut klei­ne Schnee­män­ner aus Papier. Als der Stra­ßen­keh­rer um Mit­ter­nacht erscheint, wird er gera­de­zu sabo­tiert. Er wird bewor­fen, ein gut geklei­de­ter Herr ringt mit ihm um sei­nen Besen und Kin­der ver­su­chen, ihn unter dem Papier zu begra­ben. 23.30 Kurz vor Mit­ter­nacht erreicht der Tru­bel sein größ­tes Aus­maß. Die Leu­te schlen­dern durch das mitt­ler­wei­le zer­tram­pel­te Mate­ri­al, wie man es an Herbst­ta­gen auf laub­be­deck­ten Wie­sen tut. Es herrscht eine fröh­li­che Fes­ti­val­at­mo­sphä­re. Selbst erwach­se­ne Men­schen stür­zen sich kopf­über in die Papier­ber­ge. Der Rat­haus­saal ist zu einem regel­frei­en Raum gewor­den, in dem kei­ne Nor­men für das Ver­hal­ten bestehen und die Reak­tio­nen instink­tiv aus­fal­len. Die Künst­ler sind in der toben­den Men­ge nicht mehr aus­zu­ma­chen. Irgend­wo zwi­schen dem aus­ge­las­se­nen Publi­kum sit­zen sie, von einem Halb­kreis von Men­schen umge­ben, die ihnen Fra­gen stel­len oder sich mit ihnen unter­hal­ten. Dann ertönt von Jörg Rost ein Ruf, der das Nahen des letz­ten Blat­tes ankün­digt. Er steht mitt­ler­wei­le in einer hüft­ho­hen Papier­we­he. Auch Marc Wes­ter­mann hat nur noch weni­ge Blatt Papier übrig. Über­mü­tig zählt das Publi­kum laut mit. Als er das Letz­te erreicht ist, ste­hen die bei­den Künst­ler zusam­men, hal­ten es vor sich wie eine Tro­phäe, wäh­rend sie von der Men­ge foto­gra­fiert wer­den. Dann gehen sie lang­sam aus dem Raum, in der sich das Publi­kum noch ver­gnügt. 01.30 Das Licht geht an. Schmut­zig, zer­knüllt und zer­ris­sen liegt das Papier auf dem Boden. Auf einen Schlag ist die Unwirk­lich­keit, die vom Schwarz­licht aus­ging, ver­flo­gen. Die Men­schen schei­nen den Kopf zu schüt­teln und den merk­wür­di­gen Moment abzu­strei­fen, bevor sie sich sam­meln um den Raum zu ver­las­sen, der in den letz­ten Stun­den zu einer Insel des Irra­tio­na­len gewor­den ist.

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Interview mit Marc Westermann und Jörg Rost

Schau ins Blau: Sie haben in den letz­ten Stun­den ein paar Tau­send Blät­ter Papier zer­knüllt — Wie füh­len Sie sich?
Marc Wes­ter­mann: Müde!
Schau ins Blau: Man plant so eine Per­for­mance ja im Vor­aus, sitzt zusam­men und über­legt sich Ziel und Inten­ti­on. Sind Ihre Erwar­tun­gen erfüllt wor­den?
Marc Wes­ter­mann: Zur Hälf­te sind sie wahr gewor­den — bis etwa 21.20 Uhr…
Jörg Rost: …bis dahin war es rela­tiv medi­ta­tiv, wir haben geknüllt, die Ber­ge sind gewach­sen, bis dann die ?klei­ne Revo­lu­ti­on” im Rat­haus­saal statt­fand.
Schau ins Blau: Ja, Herr Rost, Sie sind regel­recht von den Zuschau­ern begra­ben wor­den, wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Jörg Rost: Mit ein wenig Abstand betrach­tet fin­de ich es natür­lich schön, dass die Leu­te auch mit­ma­chen, durch unser Werk lau­fen und sich mit dem Papier bewer­fen. Viel­leicht habe ich sie auch ein wenig pro­vo­ziert, aber in dem Augen­blick fühlt man sich tat­säch­lich bedrängt. Ich bin das ja auch nicht gewohnt, aber ich glau­be, dass man in dem Moment auch damit klar­kom­men muss, wie der Mensch auf die Per­for­mance oder auf mich reagiert. Und die­se Leu­te woll­ten ein­fach wie­der Kin­der wer­den, das hat man auch gemerkt.
Schau ins Blau: Sie haben den Raum in Schwarz­licht getaucht. Inwie­fern hat das zur Ver­än­de­rung der Atmo­sphä­re bei­getra­gen?
Jörg Rost: Ich arbei­te als Licht­de­si­gner und Licht­künst­ler fast aus­schließ­lich mit Licht. Und die Idee war, mal etwas völ­lig Ande­res zu machen als das, was man sonst so an Fas­sa­den sieht. Außer­dem ermög­licht das Schwarz­licht den Wech­sel der Atmo­sphä­re im Ver­lauf des Abends.
Marc Wes­ter­mann: Das Schwarz­licht hat für mich auch etwas von Zau­be­rei. Es ent­steht ein Bild in einer eige­nen Rea­li­tät und wenn man das nor­ma­le Saal­licht wie­der anschal­tet, dann ist es weg. Pro­zes­sua­le Kunst­wer­ke sind ja nie wie­der­hol­bar. Es ist deren Sinn und Zweck, sich jeg­li­cher Repro­duk­ti­on zu ver­sper­ren. Beim nächs­ten Mal wird alles ganz anders sein. Vie­le Leu­te haben mich gefragt, ob sie ein unzer­knüll­tes Blatt haben könn­ten, als Sou­ve­nir. Sie woll­ten den Ein­druck rich­tig fest­hal­ten und mit nach Hau­se neh­men, also eigent­lich ein ?Werk” mit zeit­li­chem Bestand besit­zen, anstatt einen Pro­zess wahr­zu­neh­men. Unser Vor­ge­hen kon­ter­ka­riert die­ses Ver­lan­gen, sich ein Totem mit nach Hau­se zu neh­men, denn nur dann, wenn man wirk­lich ?da”, also vor Ort ist, ist die Kunst auch da. Auf­grund des Effekts der fluo­res­zie­ren­den Far­be hält man zuhau­se ledig­lich ein wei­ßes Blatt Papier in den Hän­den. Auch die Blitz­licht­fo­tos sind wahr­schein­lich nichts gewor­den.
Schau ins Blau: Sie haben eine ?Wind­ro­se” auf die Blät­ter gedruckt.
Marc Wes­ter­mann: Die Wind­ro­se war umge­än­dert. Indem wir sie zwölf statt sech­zehn­tei­lig ent­war­fen, spiel­ten wir — qua Asso­zia­ti­on Zif­fer­blatt ­- auf die ver­ge­hen­de Zeit an, als Gefü­ge, in des­sen Rah­men sich der Schaf­fens­pro­zess gestal­tet. So steht unse­re Wind­ro­se sym­bo­lisch für das gan­ze Poten­zi­al des mensch­li­chen Schaf­fens in Zeit und Raum als Basis jeg­li­cher Hand­lungs­mög­lich­keit.
Schau ins Blau: Neben mir saß eine Dame, die ein glat­tes Blatt Papier in die Hand bekam und mein­te: ?Das muss man jetzt zer­knül­len, ja? Ich bin doch so unkrea­tiv.”
Marc Wes­ter­mann: Genau die­se Hal­tung haben wir hof­fent­lich im Lau­fe des Abends gebro­chen. Heut­zu­ta­ge ist der Künst­ler zu einer Art Pro­phet der Moder­ne gewor­den, der über ein exklu­si­ves Wis­sen ver­fü­gen soll. Ich erle­be immer öfter Leu­te, die aus der Aus­stel­lung kom­men und sagen: ?wahr­schein­lich gut, aber…” und dann folgt ein Schul­ter­zu­cken. Die­sen Bonus gibt der ver­un­si­cher­te Betrach­ter der Kunst immer, wenn sie auf einem Sockel steht. Noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten galt der Künst­ler als halb­kri­mi­nel­les Sand­korn im Getrie­be der Gesell­schaft, heu­te ist er in ihrer Mit­te ange­kom­men. Die­ser Pro­zess hat das Ver­hal­ten des Betrach­ters auf den Kopf gestellt. Von extrem kon­ser­va­ti­ver Reiz­bar­keit damals hin zu einer Hal­tung, die tole­rant, libe­ral oder offen wirkt, aller­dings häu­fig aus unkri­ti­scher Ehr­furcht gegen­über der Kunst gebo­ren ist. Frü­her hieß es noch: ?Das soll Kunst sein?”, dann wur­de der Kon­sens ?Kunst liegt im Auge des Betrach­ters” gefun­den und ist bis heu­te popu­lär. Doch das stark zuneh­men­de: ?Ich ver­ste­he es zwar nicht, aber es wird schon Kunst sein.” ist mir neu. Wir haben vor­her dar­über gespro­chen, ob wir die Per­for­mance vom Zuschau­er abtren­nen wol­len oder nicht, ob wir uns also im Rah­men einer Büh­nen­si­tua­ti­on auf den ?Kunst­so­ckel” stel­len wol­len. Wir woll­ten es nicht und so ist auch hin­ter­her die­se ganz eige­ne Fes­ti­val­at­mo­sphä­re ent­stan­den.
Schau ins Blau: Euer Stra­ßen­keh­rer ist regel­recht ange­grif­fen wor­den. Er, als Ver­tre­ter einer Ord­nung schaf­fen­den Kraft, konn­te sei­ner Arbeit zunächst noch unbe­hel­ligt nach­ge­hen, wäh­rend spä­ter am Abend das Papier nur so auf ihn flog.
Marc Wes­ter­mann (wirkt erfreut): Für mich war das heu­te eine Lehr­stun­de in Psy­cho­lo­gie. Die Leu­te wur­den zuneh­mend infan­til und haben instink­tiv dar­auf reagiert, dass ihnen das Spiel­zeug wie­der genom­men wur­de. Das Vor­ha­ben, die Mas­se mit Auto­ri­tät zu bän­di­gen, schlug fehl. Ich habe es dann mit Ein­bin­dung ver­sucht. Ich habe jene, die mich angrif­fen, auf mei­nen Platz gesetzt und es war inter­es­sant zu beob­ach­ten, dass sie sofort und wider­stands­los mei­ne Arbeit über­nom­men haben. Auch auf die Gesell­schaft bezo­gen war das inso­fern ein auf­schluss­rei­ches Bild. Wie lässt sich die Mas­se bän­di­gen? Und wie geht man am bes­ten mit der aggres­si­ven Ener­gie um?
Jörg Rost: Für mich war es ein Spaß. Es war in gewis­ser Wei­se auch ein Ven­til, vor allem, als ich die Mas­se laut zur Ord­nung rief. Ich den­ke, es ist auch so ver­stan­den wor­den.
Schau ins Blau: Vie­le haben ja bewusst den Kon­takt gesucht.
Jörg Rost: Ja, die Zuschau­er woll­ten wis­sen, was es zu bedeu­ten hat, was wir da tun. Wir machen oft Stra­ßen­pro­jek­te, bei denen wir uns bemü­hen, vie­le Leu­te ein­zu­bin­den. Sehr schnell ent­steht dabei ein Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl bei den Mit­wir­ken­den. Das heu­te war eher etwas Extro­ver­tier­tes. Doch die Fra­ge der Reak­ti­on ist für uns sehr wich­tig. Beim Kin­der­thea­ter klet­tern gele­gent­lich Kin­der auf die Büh­ne. Soll man die als Ver­an­stal­ter dann vom Ord­nungs­per­so­nal wie­der ent­fer­nen las­sen oder soll der­je­ni­ge, der auf der Büh­ne steht, mit der Situa­ti­on umge­hen? Ich bin eher für die zwei­te Vari­an­te. Ich den­ke, es soll­te auch eine der Auf­ga­ben des Künst­lers sein, mit den Reak­tio­nen umzu­ge­hen. Egal in wel­cher Form sie auf­tre­ten.
Schau ins Blau: Die Reak­tio­nen waren heu­te sehr schwer ein­zu­schät­zen.
Jörg Rost: Da waren hun­dert­pro­zen­tig Leu­te dabei, die haben sich zum letz­ten Mal im Kin­der­gar­ten so gehen gelas­sen haben. Wir sind froh, dass sich dabei nie­mand ver­letzt hat, denn eini­ge haben sich regel­recht in den Papier­hau­fen gestürzt.
Schau ins Blau: Sozu­sa­gen eine Rück­füh­rung in eine kind­li­che Erleb­nis­welt.
Jörg Rost: Ja, und das ist auch gut so. Wenn man sich umsieht, merkt man, wie ernst die Men­schen gewor­den sind. Ich wür­de mir wün­schen, dass sich mehr Men­schen auf eine kind­li­che­re Ebe­ne ein­las­sen könn­ten. Es muss nicht immer alles strikt durch­ge­plant wer­den. In den heu­ti­gen Events ist über­haupt kein Spiel­raum mehr. Man über­lässt nichts mehr dem Zufall, doch das ist ein Feh­ler. Man muss den Din­gen Raum geben, sich zu ent­wi­ckeln. Nur so ent­steht Neu­es.
Marc Wes­ter­mann: Das war eben kei­ne Gale­rie­vor­füh­rung. Nor­ma­ler­wei­se ist man vor­sich­tig, wenn man einen Kunst­raum betritt. Erst Mal hin­set­zen und im Pro­gramm blät­tern und sich eher kon­tem­pla­tiv mit dem Bedeu­tungs­ge­halt beschäf­ti­gen. Vor­sicht ist die kul­tu­rell ver­mit­tel­te Grund­hal­tung im musea­len Raum. So war es bei uns am Anfang ja auch. Jeder neue Besu­cher, der durch den Ein­gang trat, konn­te sich ver­ge­wis­sern, dass die Ande­ren sich gemäß der Benimm­re­gel ver­hiel­ten. Spä­ter aller­dings, nach­dem das Cha­os aus­ge­bro­chen war, sahen die neu hin­zu­kom­men­den Zuschau­er schrei­en­de, ins Papier­bad sprin­gen­de Men­schen und kopier­ten die­ses Ver­hal­ten. Wahr­schein­lich, weil sie davon aus­gin­gen, dass eine Art Schaum­bad-Hap­pe­ning geplant war. Doch der sprin­gen­de Punkt ist, dass die Men­schen die Grund­hal­tung der Vor­sicht selbst auf­ge­bro­chen haben. Es gab kei­ne Anwei­sung von Sei­ten der künst­le­ri­schen Auto­ri­tät: ?Jetzt bit­te Aus­flip­pen!” Das Cha­os hat sich selbst wei­ter­ko­piert und mul­ti­pli­ziert.
Jörg Rost: Das ist auch völ­lig legi­tim. Der Stadt­raum ist der Raum der Bevöl­ke­rung. Das war nicht ein Kunst­ver­ein, in dem die gela­de­nen Gäs­te mit einem Cham­pa­gner­glas her­um­wan­dern. Das war die Zurück­er­obe­rung eines der Bevöl­ke­rung zuste­hen­den Rau­mes.
Schau ins Blau: Sie wirk­ten über­ra­schend ansprech­bar. Man erwar­tet unbe­wusst eine stei­fe­re Hal­tung von einem Künst­ler.
Marc Wes­ter­mann: Auf die Fra­ge eines Besu­chers habe ich wohl zu lei­se geant­wor­tet, wor­auf­hin die­ser mein­te: ?Ach, ich weiß, du darfst nicht spre­chen.”. Doch! Das darf ich! Man geht als Betrach­ter von Per­for­mance­kunst oft von einem unbe­rühr­ba­ren Gegen­über aus. Ent­ge­gen den klas­si­schen Gat­tun­gen wie etwa der Male­rei oder der Skulp­tur, die ihren Kunst­rah­men oder ‑sockel schon haben, muss der Per­for­mance­künst­ler sich ihn erst schaf­fen. Das ist not­wen­dig, denn der All­tag wird als All­tag wahr­ge­nom­men. Das all­täg­li­che Kar­tof­fel­schä­len und das Kar­tof­fel­schä­len im Rah­men einer Per­for­mance sind zwei iden­ti­sche Hand­lun­gen, mit jedoch grund­ver­schie­de­nen Zie­len. Man braucht also in der Tat ein Moment, das den Leu­ten ver­mit­telt: ?Ach­tung: Kunst!”, damit sie sich dem Phä­no­men in einer auf Ästhe­tik bezo­ge­nen Hal­tung nähern, denn nur so kön­nen sie das Poten­zi­al des Gesche­hens abschöp­fen. Und das machen sehr vie­le Per­for­mance­künst­ler durch eine Hal­tung, die mir ehr­lich gesagt auf den Magen schlägt. Meis­tens ist die­se Hal­tung gezwun­gen künst­lich, indem der Künst­ler nicht spricht oder starr in eine Rich­tung schaut.
Schau ins Blau: Wie wür­den Sie also den heu­ti­gen Abend ver­or­ten?
Marc Wes­ter­mann: Die­se Kunst hat gezeigt, was die Bevöl­ke­rung bewegt. Zu Jörg kam ein Mann, der sich über die Papier­ver­schwen­dung beklag­te. Er hat­te recht, wir haben mit Papier einen kost­ba­ren Roh­stoff ver­schwen­det. Dadurch ent­steht in mei­nen Augen auch die For­de­rung an den Künst­ler, etwas zu machen, das die Leu­te zu Reak­tio­nen bewegt, das sie dazu bewegt, sich Gedan­ken zu machen, die sie sich sonst nicht machen wür­den. Wor­aus also auch wie­der For­de­run­gen ent­ste­hen, die sich an die Gesell­schaft stel­len las­sen. Tat­säch­lich wird zuviel Papier mit Nich­tig­kei­ten bedruckt und ver­schwen­det. Der Unter­schied der von uns ver­schwen­de­ten Blät­ter zu etwa der­sel­ben Anzahl Blät­ter, die als Pla­kat zum Bei­spiel die nächs­te Ero­tik­mes­se ankün­di­gen ist: die von uns ver­schwen­de­ten Blät­ter bie­ten die selbst­re­fe­ren­ti­el­le Mög­lich­keit, über die Ver­schwen­dung unse­rer Res­sour­cen nach­zu­den­ken. Die Ero­tik­mes­sen­pla­ka­te hin­ge­gen ver­wei­sen auf ein Geschäft, das unse­re Gesell­schaft sicher­lich nicht wei­ter­bringt. Die Pro­vo­ka­ti­on lag für eini­ge dar­in, dass unser Papier zu kei­nem offen­sicht­li­chen Nut­zen ver­wen­det wur­de. Pla­kat­pa­pier ist dazu da, einen Event oder ähn­li­ches anzu­kün­di­gen, hat also prak­ti­schen Nut­zen, auch wenn der ange­kün­dig­te Event so nichts­nut­zig wie sonst was ist. Unser Papier war dazu da, kaputt­ge­macht zu wer­den — für einen nicht nur nütz­li­chen, son­dern auch hof­fent­lich schö­nen Event.
Schau ins Blau: Ich dan­ke für das Gespräch.

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Die Biographien

Marc Westermann:

Stu­di­um der Illus­tra­tio­nen und Druck­tech­ni­ken an der Ruhr­aka­de­mie und der FH Müns­ter und der Male­rei am Edin­burgh Col­lege of Art, Stu­di­um der alten Meis­ter auf den Gebie­ten der Zeich­nung und Hand­ha­be der Werk­stof­fe in Bolo­gna. Aus­stel­lungs­tä­tig­keit im In- und Aus­land auf den Gebie­ten Male­rei, Zeich­nung und Instal­la­ti­on. Seit 2004 Tätig­keit als Dozent an der Rei­chen­hal­ler Aka­de­mie. Marc Wes­ter­mann lebt und arbei­tet in Essen.
www.derkunstrasen.de

Jörg Rost:

Gelern­ter Bäcker, See­mann und Schiffs­koch. Heu­te künst­le­ri­scher und tech­ni­scher Lei­ter nam­haf­ter Groß­ver­an­stal­tun­gen, wie z.B. der “Nacht der Indus­trie­kul­tur” im Ruhr­ge­biet. Inter­na­tio­na­le Prä­sen­ta­tio­nen mit den Stra­ßen­thea­ter­grup­pen “Tita­nick” und “Thea­ter Anu”. Seit 2001 freie Kunst mit Licht. 2005 Preis des inter­na­tio­na­len Stra­ßen­thea­ter­fes­ti­vals in Holz­min­den für “Licht­spu­ren”, einer im Stadt­park ent­wi­ckel­ten Park­be­leuch­tung. Jörg Rost lebt und arbei­tet in Schwerte.

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