Das Notizbuch

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von Andrey Burnashev

Gera­de ist der Zug in den Haupt­bahn­hof Mün­chen ein­ge­fah­ren, die Brem­sen hal­ten den Zug lang­sam an, die Umge­bung passt sich lang­sam dem Innen­le­ben an und die ein­zel­nen Fahr­gäs­te packen ihre Sachen zusam­men und machen sich auf den Weg dort­hin, wo sie halt hin­müs­sen. So ist es auch mit mir. Ich wider­ste­he kurz der Ver­su­chung, sit­zen­zu­blei­ben und tas­te mich lang­sam zu mei­nem Gepäck vor, wel­ches ein Stock­werk über mir Platz genom­men hat. Neh­me es und fol­ge den ande­ren Fahr­gäs­ten in die wohl­ver­dien­te Frei­heit (mit ent­spre­chen­dem Rei­se­ge­fühl). Der nächs­te Zug, der mich in die Schweiz, nach Zürich, bringt, kommt erst um 14.55 Uhr, es ist Mitt­woch, frü­her Nach­mit­tag, bald 13.00 Uhr.

So stei­ge ich denn nun aus, hin­ter mir eine Rei­se von meh­re­ren Stun­den und vor mir hof­fent­lich der wie immer auf die Zehn­tel­se­kun­de pünkt­li­che Zug der SBB, der mich zu mei­nem steu­er­li­chen Erst­wohn­sitz in Zürich bringt. Bei so viel Pünkt­lich­keit möch­te man schon bei klei­ne­rer Unpünkt­lich­keit kla­gen, aber es sei der SBB ver­zie­hen, zumal die Züge immer am Ziel ankom­men. Dank sei dem hel­ve­ti­schen Per­fek­tio­nis­mus und der Bünz­lig­keit, der Klein­ka­riert­heit, die dies alles erst mög­lich mach­ten. Für eini­ge mag dies von der Fer­ne aus wie auto­ma­tisch wir­ken, doch viel­mehr ist die schwei­ze­ri­sche Gesell­schaft als Gan­zes wie ein per­fek­tes und unauf­halt­sa­mes Uhr­werk dar­auf getrimmt, genau so zu funk­tio­nie­ren. Von klein auf bis ins hohe Alter wird viel unter­nom­men, damit jeder Teil die­ser Gesell­schaft anschlie­ßend pünkt­lich los­fährt und ankommt. So spielt alles mit­ein­an­der einen wohl orches­trier­ten Rei­gen. Nur die Aus­ge­las­sen­heit kann da manch­mal zu kurz kom­men, aber dafür gibt es ja bei uns die direk­te Demo­kra­tie, wie, glau­be ich Max Frisch schon sag­te, die den Umstand der Aus­ge­las­sen­heit wie­der rasch behebt, ohne zu sehr in die eine oder ande­re Rich­tung zu ten­die­ren und auch die zahl­rei­chen Ver­ei­ne, die den einen oder ande­ren Kitt der Gesell­schaft ausmachen.

So bin ich also nun aus­ge­stie­gen und mache mich raschen Schrit­tes auf den Weg Rich­tung Per­ron. Auf dem Haupt­platz auf der Anzei­ge­ta­fel weist bereits die Anzei­ge auf den Zug um 14:55 Uhr hin, der mich in die schwei­ze­ri­sche bzw. dann eigent­lich inter­na­tio­na­le Finanz­haupt­stadt bringt. Es ist ja erst eins. So bleibt mir nicht viel übrig, als mich aus­zu­ru­hen und hier am Bahn­hof einen Kaf­fee zu mir zu neh­men. Dabei set­ze ich mich hin, klap­pe mein Notiz­buch auf und fin­de da den Anfang einer Geschich­te für einen Rat­ge­ber wie­der, den ich ver­sucht habe, zu schrei­ben. So ganz kann ich mich noch nicht fest­le­gen, denn es kommt vor, dass ich mei­ne Ent­schei­dung schnell ände­re. Aber dies ist inso­fern nicht wei­ter tra­gisch. Denn es ist ja nur ein Ver­such, ein Buch für Noti­zen, in wel­ches schnell hin­ein­ge­schrie­ben wird, aber auch kari­kiert, gelöscht und über­trie­ben, was das Zeug hält. So sit­ze ich nun mal da und trin­ke mei­nen Kaf­fee und schaue ins Blaue hin­aus, um mich abzulenken.

Da fällt mir auf, dass ich mich schon in Zürich befin­de. Ich sit­ze eben­falls bei mei­nem Heiß­ge­tränk, aber vor mir schwebt der Engel des Züri­cher Haupt­bahn­ho­fes und hin­ter mir die Bau­ten des Lan­des­mu­se­ums. Wie ist das mög­lich? Ich schaue mich um. Ja, tat­säch­lich. Ich bin in Zürich. Ich befin­de mich an mei­nem steu­er­li­chen Erst­wohn­sitz. Über­all gehetz­te Leu­te, die durch ihre ewi­gen Mee­tings, Ter­min­ka­len­der sowie Pünkt­lich­keit die unauf­halt­sa­me schwei­ze­ri­sche Ord­nung ver­brei­ten. Was wäre Zürich ohne sie. Vor­hin war ich noch im Zug Rich­tung Mün­chen, saß dann in Mün­chen am Bahn­hof und dach­te so über gar nichts nach und kaum bli­cke ich mich um, da bin ich schon wie­der in der Schweiz. So schnell kanns gehen.

Ich muss ein­ge­nickt sein. Im Zug beschäf­tig­te ich mich mit einem neu­en Rat­ge­ber. Ich arbei­te ja schon lan­ge beim Ver­lag. Mein Fach­ge­biet ist die Rat­ge­ber­li­te­ra­tur. Es geht um die eige­ne Begeis­te­rung, dar­um, her­aus­zu­fin­den, was man wirk­lich will, wohin man wirk­lich möch­te. Weil wir suchen auf so vie­len Wegen danach und fin­den dann doch nichts. Ein mög­li­cher Weg geht über einen Rat­ge­ber, des­halb schrei­be ich einen. Oder zwei. Mal schau­en, wie die sich so ver­kau­fen. Ich hof­fe natür­lich gut.

Ich schrei­be mei­ne Ideen Schritt für Schritt in mein Notiz­buch. Ja, es ist ein treu­er Beglei­ter für mich, in dem ich alles fest­hal­te, was mir so in den Sinn kommt. Auf die Per­spek­ti­ve kommt es an, haben mir vie­le gesagt. Aber ich habe schon lan­ge ver­stan­den, dass es nicht um Per­spek­ti­ven geht, son­dern dar­um, gemein­sam zu wach­sen. OK, Moment. Das hat­ten wir ja schon! Kom­mu­nis­mus in der SU (Sowjet­uni­on, mei­ne Freun­de wis­sen, dass ich Geschich­te stu­die­re und ken­nen schon mei­ne wich­tigs­ten Kür­zel). Und da hat es schlicht und ergrei­fend nicht geklappt. Dann neh­men wir halt das Gegen­pro­gramm. Erfolg und Selbst­ver­wirk­li­chung ohne Limit. Das ist eine Mög­lich­keit. Jeden­falls kannst du das ja selbst steu­ern. Aber unend­lich klappt das ja auch nicht. Hm. Na gut, ich muss die Sei­te im Notiz­buch mal umblät­tern, viel­leicht kom­men mir dann neue Ideen. Aber lang­sam wird es eng. Ich muss end­lich einen Best­sel­ler lan­den, ansons­ten macht mir der Ver­lag ein Ange­bot, dass ich nicht ableh­nen kann. Nein, ich mei­ne umge­kehrt. Ich habe kein Ange­bot mehr für ihn, somit muss er mich ableh­nen. Also ran hier.

Ich saß immer noch in dem Café am Haupt­bahn­hof. In mei­ne Woh­nung woll­te ich auf kei­nen Fall. Nicht dass es sehr vie­le Leu­te gäbe, die gera­de auf mei­ne Ankunft war­te­ten. Ein paar Lei­dens­ge­nos­sen, die eben­falls ver­such­ten, etwas Brauch­ba­res hin­zu­krie­gen, etwas Schrift­li­ches, wohl­ge­merkt, hat­te ich schon in die­ser Stadt. Die ein­zi­ge Bezie­hung von Dau­er jeden­falls, hat­te längst kei­nen Schlüs­sel mehr, nach­dem sie mein ewi­ges Suchen und Ver­su­chen, ein­her­ge­hend mit schlaf­lo­sen Näch­ten und einem mög­lichst hohen Alko­hol­kon­sum, nicht mehr hat­te tole­rie­ren kön­nen. Na gut, was soll ich dazu sagen, leug­nen konn­te ich es nicht, es zu ver­tei­di­gen mach­te grund­sätz­lich eben­falls kei­nen Sinn. So ließ ich sie denn zie­hen und blieb allein zurück, in einer Woh­nung, die mir fort­an noch viel grös­ser und lee­rer vor­kam, als auch schon, wenn ich sie mit dem nächt­li­chen Klin­gen von Wein­glä­sern und Klän­gen der Tas­ta­tur­schlä­ge füll­te, die die gesam­te Roman­tik mei­nes der­zei­ti­gen Lebens aus­mach­ten. Gut so weit, ich bin allein. Wie­der mal.

An die­sem Kon­gress zu frem­den Nar­ra­ti­ven aus der Kolo­ni­al­zeit in der euro­päi­schen Lite­ra­tur, zu dem ich auf­grund mei­ner Ver­lags­tä­tig­keit ein­ge­la­den war, gab es immer­hin eini­ge weni­ge Leu­te, die mir bekannt waren. Nun zurück in die­ser kal­ten Stadt und eisi­gen Woh­nung traue ich mich gar nicht, den mor­gi­gen Tag abzu­war­ten, an wel­chem das typi­sche Ver­lags­le­ben nun mal wei­ter­ge­hen wird. Obwohl, so schlimm wäre das gar nicht. Der Ver­lust des Lebens, wie ich es gekannt habe. Und der Beginn von etwas ganz Neu­em. Das will man ja. Etwas ganz Neues.

Ich schrieb wei­ter in mein Notiz­büech­li, das ich mit Ideen fül­len woll­te. Mit Visio­nen, die mein Leben und das der ande­ren ver­än­dern soll­ten. Ich war sicher, dass da ein paar brauch­ba­re Lebens­plä­ne dar­un­ter waren. So wie ich mir bei mei­nen Plä­nen immer sicher war, wie Lau­ra anfü­gen wür­de, die immer noch bei mir prä­sent war, wenn auch nicht in der Rea­li­tät, son­dern in mei­nen Träu­men und Wün­schen von die­ser Rea­li­tät. Sie hat an mich geglaubt. Ich habe an mich geglaubt. Der Glau­be ist es, der uns nach vor­ne bringt. OK. Es war halb zehn. Bis zum Tref­fen waren es noch über sechs Stun­den, sechs­ein­halb, um genau zu sein. Das habe ich mir eben­falls abge­wöhnt, genau zu sein, seit Lau­ra weg ist. Ver­dammt. Irgend­was habe ich falsch gemacht. Ich kom­me ein­fach nicht dar­auf, was.

Naja, dies ist ein ande­res The­ma, eine wei­te­re der ewi­gen Bau­stel­len mei­nes Lebens. Ich den­ke, ich wer­de die­se Bau­stel­len mit höchs­ter Wahr­schein­lich­keit mein gan­zes Leben hin­durch haben und ins Grab mit­neh­men. OK, alles klar. Die­se Bau­stel­len sind sicher­lich inter­es­sant zu betrach­ten und dar­über könn­te man noch viel schrei­ben. Aber das ist nun mal jetzt nicht das The­ma. Sich mit Alko­hol ersäu­fen, wäre das ziel­füh­ren­der? Da fiel mir ein wei­te­rer Song­text ein, und ich schrieb ihn auf. One thousand miles away, there’s not­hing left to say / But so much left that I don’t know / We never had a choice, this world is too much noi­se / It takes me under, it takes me under once again… OK, ich darf nicht zu sehr nach Selbst­hil­fe­rat­ge­ber klin­gen. Mein Rat­ge­ber soll jeman­den befä­hi­gen, dass Bes­te aus sei­ner Situa­ti­on zu machen. Nicht, sich in Selbst­mit­leid zu ergehen.

Ich rief Lau­ra an. Ich muss­te sie anru­fen. Das wür­de eine Wen­dung brin­gen in mei­nem Leben, die ich schon lan­ge hät­te her­bei­füh­ren sol­len. Und jedes die­ser Wor­te, die wir an die­sem Tag mit­ein­an­der spra­chen, war plötz­lich so wich­tig für mich, wie es vor­her noch kei­ne Wor­te für mich gewe­sen waren. Sie beweg­ten mich, sie beweg­ten uns – wir wur­den an die­sem Tag wie­der zusam­men­ge­führt und erho­ben. Gemein­sam schien plötz­lich alles mög­lich. Denn die­se Wor­te beschrie­ben genau das, wie ich gera­de füh­len woll­te, wie sie fühl­te, und wie ich so ger­ne in mei­nem neu­en Leben sein wollte.

Andrey Bur­nas­hev, 1992 in Mos­kau, Russ­land, gebo­ren, auf­ge­wach­sen in der Schweiz. Stu­dier­te in sei­nem Bache­lor in Zürich. Hat sei­nen Mas­ter in Geschichts­wis­sen­schaf­ten die­ses Jahr an der Otto-Fried­rich-Uni­ver­si­tät Bam­berg, Deutsch­land, erfolg­reich abge­schlos­sen. Reist ger­ne in ver­schie­de­ne Län­der in Euro­pa oder auch außer­halb, inter­es­siert sich dem­entspre­chend für frem­de Kul­tu­ren und die Geschichte(n) unter­schied­lichs­ter Men­schen und beob­ach­tet ger­ne das Neue und Unbe­kann­te. Fin­det in der Lite­ra­tur immer wie­der den Zugang zu die­sen The­men. Hob­bies: Rei­sen, Lesen, Sport, Geschich­te, Freun­de tref­fen, etc. In der Jugend viel geschrie­ben, im Stu­di­um lei­der nicht mehr die Zeit dafür gehabt. Hoff­te, durch die Aka­de­mie als Initia­tor wie­der in einen neu­en und leben­di­gen «Schreib­fluss» zu kommen.